STUTTGART. Dass Werner Schretzmeier bei seinem Oster-Festival einem keine Kuckuckseier ins Nest legt, ist seit fast zwei Jahrzehnten bekannt. So strömte das Publikum auch zum neuen Theaterhaus-Standort am Stuttgarter Pragsattel und ließ sich gerne auf Gewohntes und Unbekanntes ein: „Festival der Entdeckungen“ nannten die sich jetzt zum 19. Male durchgeführten Internationalen Theaterhaus-Jazztage und offerierten – wie die sommerlichen „JazzOpen“ in der Liederhalle – nicht puristischen Jazz. Konglomerate und Grenzüberschreitungen, vielleicht auch Stilbrüche, allenthalben – und diesmal ein Akzent auf großorchestrale Musik.
Bereits am Gründonnerstag präsentierte im Eröffnungskonzert der Brite Matthew Herbert eine turbulente Mixtur von Big-Band-Swing mit Computer-Technologie – und szenischen Gags. Tags darauf Gediegenes von der an der Parkinson-Krankheit leidenden Saxofonistin Barbara Thompson. Als Uraufführung stand ihre Komposition für Saxofon-Quartett und Streicherensemble auf dem Programm. „Mirages“ heißt dieses Opus, wobei nicht an französische Kampf-Jets, sondern an – genau übersetzt – „Luftspiegelungen“ gedacht wird. Für das personell wieder verjüngte „Rascher Saxophone Quartet“, berühmt in der klassischen Musik eigentlich für keusche Interpretationen im Stile alter Blockföten-Ensembles, und die „Camerata Bern“ wurde das viersätzige Werk geschrieben, das sich mit Schein und Sein von Oasen auseinandersetzt und auch arabische Tonfolgen integriert. Eine darstellende Musik mit vielen schönen Stimmungsbildern, wobei der Optimismus nie versiegt. Barbara Thompson selbst spricht von „Heirat zwischen Saxofonen und Streichern“ und einem „demokratischen Musizieren“. Allerdings: Weitgehende Gleichberechtigung der Instrumente herrschte zwar, doch spontan-improvisatorische Freiheiten und daraus resultierende Formverläufe blieben außen vor.
Nur für (gebogenes) Sopran-, Alt-, Tenor- und Bariton-Saxofon war eine andere Programmmusik konzipiert: „From Darkness To Light“. Hier beleuchtete Barbara Thompson eindrücklich und sehr assoziativ die Farben Schwarz, Rot und Grün. Mehr vertraute Jazz-Elemente vermittelte das seit 1989 bestehende Südpool-Projekt, welches sich erstmals in konventioneller Big-Band-Besetzung präsentierte, aber bei seiner avantgardistischen Ausrichtung blieb. Bernd Konrad erinnerte erneut an das Schicksal von Moby Dick und dramatisierte „Der Wal, Teil 2 – Die Jagd“. Auf dem Baritonsaxofon ließ der Komponist Walgesänge und das tierische Schreien anklingen, während die Vokalistin Lauren Newton furios als Erzählerin und Scat-Improvisatorin fungierte. Der Trompeter Herbert Joos, wie Konrad Leiter des baden-württembergischen Ensembles, steuerte ein gar nicht biederes „Adagio Nr. 5“ bei, und Bassist Günter Lenz besann sich bei „Corrida“ anfänglich an den Bolero-Konzerttrommel-Rhythmus. Pianist Paul Schwarz gedachte dem im Dezember 2003 verstorbenen Hans Koller und vermied, den Österreicher mit Sopran- oder Tenor-Saxofon-Soli imitieren zu wollen. Stattdessen dominierten in der Elegie der vielbeschäftige Gregor Hübner auf der Geige und Herbert Joos auf dem Flügelhorn.
Ganz jung und forsch kam nun „live“ die „SWR Big Band“ daher. Der Ulmer Blechbläser Joo Kraus, der mit dem Duo „Tab Two“ in der hippigen Pop-Kultur zu Weltruhm gelangte, stellte sich vor das rock-rhythmisch groovende Stuttgarter Radio-Orchester blies ganz cool in gebückter Miles-Davis-Haltung in die gestopfte Trompete, rapte zu vertrauten Standards wie „Scarborough Fair“ und „Birdland“ neue Texte ins Mikro oder vollführte noch einen intonationsgetrübten Brummel-Gesang.
Als Osterüberraschung gereichte sicherlich die solistische Virtuosität des Pianisten Patrick Bebelaar, der sich ursprünglich mit (dem kurzfristig als krank gemeldeten) Wolfgang Dauner ein Duo liefern sollte. Intelligent über Genre-Grenzen hinweg begab sich der Landesjazzpreisträger des Jahres 2000 auf eine weltumspannende Musikreise. Heile Welt als auch ausgetüftelt Schräges kombinierte dagegen Baden-Württembergs 2004-Preisträger, nämlich Gitarrist Jo Ambros mit dem Quartett „Frimfram Collective“.
Geradezu unspektakulär, ohne Brüche und in rhythmisch-harmonischer Einheit verarbeiteten der amerikanische Pianist Richie Beirach, der tschechische Bassist Jiri „George“ Mraz und der deutsche Geiger Gregor Hübner nochmals Stücke von Claudio Monteverdi, Bela Bartok, Frederico Mompou und Giovanni Battista Pergolesi. Musikalisch querbeet ging auch die japanische Pianistin Aki Takase, die vom Publikum genauso gefeiert wurde wie das finnische „Trio Töykeät“. Bei dem amerikanischen Trio „The Bad Plus“ schieden sich allerdings die Geister. Der fünfte und letzte Stuttgarter Jazztag stand unter dem Motto „Total Global“ und hatte den tunesischen Oud-Zupfer Dhafer Youssef und das aus der Klezmer-Gruppe „Kol Simcha“ hervorgegangene „World Quintet“ auf dem Plan.
Umrahmt wurde das Stuttgarter Festival mit über achtzig Arbeiten des Fotografen Paul Gerhard Deker, der nach wie vor auf Zelluloid und auf schwarz-weiß schwört. Der nun in Stockholm lebende Profi lichtete Jazz-Stars nicht nur in seiner Wahlheimat ab, sondern kommt regelmäßig an seinen Geburtsort Stuttgart zurück und ist stets auch beim JazzFest in Berlin anzutreffen. Da gefällt er durch seine ruhige und besonnene Art – und so fängt er auch pointiert lichtbildnerisch Momente musikkünstlerischen Schaffens ein. Wolfgang Dauner portraitierte er bereits in den frühen 60er Jahren, und Aufnahmen von Bob Marley und Jimi Hendrix gehören mittlerweile zu den Raritäten.
Info: Einige bei den Theaterhaus-Jazztagen ausgestellten Fotos von Paul G. Deker sind im Internet auf den Jazzpages zu sehen.