Geschlossene Gesellschaft

(elektronischer reprint eines Artikels aus der Esslinger Zeitung, 1991)


Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf 

(Esslinger Zeitung, 20. April 1991)

Wenn man im Jazz von einem Superstar und von einer Kultfigur sprechen kann, dann ist dies heutzutage bestimmt der Trompeter Miles Davis. Schon auf etlichen Festivals im In- und Ausland konnte ich erleben, welch prickelnde und knisternde Spannung im Besucherfoyer und erst recht „backstage“ herrschte, wenn der extravagante Künstler angesagt war. Wie ist er heute drauf? Geruht der Meister gute Laune zu haben oder kränkelt er wieder? Welches Hotel, welche Nobelkarosse und welches Mineralwasser werden seinen hohen Ansprüchen gerecht? Wie viel Meter Mindestabstand müssen die Fernsehkameras vom unnahbaren Heroen einhalten? Mit wie vielen „body guards“ ist der moderne Jazzkönig angerückt? So kann man sich leicht vorstellen, welche Aufregung im Ludwigsburger Tonstudio Bauer herrschte, als ganz kurzfristig angefragt wurde, ob Miles Davis samt Gefolge dort ein paar Titel digital abspeichern könnte.

Seit längerer Zeit war klar, dass Miles Davis für ein Konzert im Frühjahr nach Baden-Württemberg verpflichtet werden konnte – allerdings nicht in eine umtriebige Metropole, sondern in die Ostalb nach Aalen, Stadthalle. Eigentlich hätte es gemütlich zugehen können mit einem „day off“ in Stuttgart. 

Doch unvermittelt klopfte der Miles-Manager beim Aalener Veranstalter Ingo Hug an und erkundigte sich nach einem freien Tonstudio. Tatsächlich hatten die „Bauer Studios“ in Ludwigsburg-Eglosheim noch Kapazitäten frei. Keith Jarrett und Udo Jürgens, Fritz Wunderlich und Gotthilf Fischer, Stevie Wonder und Ernst Mosch, Chick Corea und Peter Alexander: all diese namhaften Persönlichkeiten wurden dort schon auf Magnetband aufgenommen und abgemischt. Miles Davis sollte aber ein ganz besonderes Ereignis darstellen.

Als der Termin feststand, blieb die Frage offen, ob Miles Davis denn einen – vielleicht störenden – Fotografen bei der nervenaufreibenden Studioarbeit zulassen würde. Man kennt schließlich die Eskapaden dieses Trompetenlyrikers und anderer Jazzgötter. Als einmal Chick Corea im Tonstudio Bauer am Flügel war, erlaubte sein Produzent Manfred Eicher nicht einmal, aus der Regie heraus durch die schallisolierende Scheibe hindurch den Tastenkünstler abzulichten, da sich der Pianist, dessen Karriere übrigens bei Miles Davis begann, dadurch belästigt fühlen würde. Jedenfalls bestand bei Miles Davis eine geringe Hoffnung, bei seinen Tonaufnahmen einige Fotoaufnahmen machen zu können. Der Hamburger Journalist Ralph Quinke erzählte mir vor einigen Jahren, wie er mit Miles in einem New Yorker Studio Freundschaft schloss und eine richtige Fotosession abziehen konnte. So hegte ich eine geringe Hoffnung und rüstete vorsorglich fünf Spiegelreflexkameras und eine Sucherkamera mit den unterschiedlichsten Filmen in Schwarzweiß und Farbe aus. Nichts dürfte den Objektiven entgehen… 

Ab 14 Uhr sollten die Roadies das riesige Arsenal von Instrumenten aufbauen, für 15 Uhr dann war der Beginn von einer zehnstündigen Studiotätigkeit geplant. Ob eine ganze Platte oder nur einige Stücke aus dem aktuellen Tourneeprogramm aufgezeichnet werden sollten, dies wusste Studiochef Rolf Bauer nicht. Um 17 Uhr ist immer noch kein Musiker da, die paar anwesenden Bediensteten von Miles Davis und die Studioangestellten werden nervös. 

Eigentlich hätten die Musiker längst auf dem Flughafen Echterdingen gelandet sein müssen. Ein Anruf in einer Stuttgarter Luxusherberge bringt die Gewissheit, dass die Leute demnächst in Ludwigsburg eintreffen würden. Doch dann kommen in zwei Autos lediglich einige „Bühnenarbeiter“ für das elektrische Equipment. Zu erfahren ist außerdem, dass es Miles Davis doch vorgezogen hatte, von Köln aus mit einer Limousine chauffiert zu werden. Außerdem würde es ihm gesundheitlich offensichtlich gar nicht gut gehen.

Man weiß, dass Miles Davis ein schweres Hüftleiden hat, oft geht er hinter der Bühne am Krückstock, während er sich dann auf dem Podium frei bewegt – ein unverkabeltes Mikrofon an der Trompete zwingt ihn auch nicht, am Mikrofonständer zu kleben. Außerdem ist der demnächst 65jährige zuckerkrank. In den letzten zehn Jahren war er ständig auf Tournee und viel in Europa zu hören. Die Reisetätigkeit stresst ungeheuerlich.

So ist es Miles Davis nicht zu verübeln, dass er in seinem Hotel noch ausspannen will. Als Erscheinungstermin wird jetzt 21.30 Uhr genannt. Die zwei Lastwagenfahrer bekommen Hunger und fragen nach einer Schnellgaststätte, ein Roadie erkundigt sich nach einer Waschmaschine im Tonstudio Bauer – das Hotel würde nämlich für die Reinigung eines Hemdes zehn Mark verlangen. Mit derlei irdischen Problemen hat Miles Davis nicht zu kämpfen – seine Verträge verlangen Spitzenleistungen von den Veranstaltern. Ingo Hug berichtet, dass in Aalen 14 verschiedene Mineralwässer bereitstünden. Als Nobelkarosse stehe ein Rolls-Royce zur Verfügung: Silver Shadow I, Baujahr 1968.

Die Begleitmusiker treffen ein, Toningenieur Carlos Albrecht steuert aus, und man fertigt eine Probeaufnahme. Alles ist für den Bandboss schon hergerichtet: seine eigenen Keyboards und zusätzliche Mikrofone für die Trompete in einer schalldichten Kabine. Dort wird mir zuliebe noch eine weitere Glühbirne eingeschraubt, damit ich den Star im rechten Licht habe. Natürlich muss Manager Gordon Melzer ganz offiziell um Fotografiererlaubnis gebeten werden. Doch in aller Höflichkeit lehnt er entschieden ab: „It’s absolutely impossible. No photos, no interviews. This is a closed session.“ Eine geschlossene Gesellschaft für und von Miles Davis. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Wunsch strikt zu respektieren: jede unnötige Aufregung muss von dem labilen Miles Davis ferngehalten werden. 

Immer noch: Warten auf Miles. Round Midnight ist es endlich soweit: Ein weißer Rolls-Royce kommt vorgefahren, ihm entsteigt der „Schwarze Prinz“ in Samt und Seide, modisch up to date. Manager Melzer stützt den psychisch und physisch angeschlagenen Künstler und hilft diesem, die Treppenstufen zu überwinden. Derweil stehen die Leute vom Tonstudio Spalier. Augen-Blicke, die in Erinnerung bleiben. Gordon Melzer stellt Rolf Bauer als den Chef des Studios vor. Miles Davis drückt ihm flüchtig die Hand und lächelt artig gequält – „Miles smiles“.

Der Schwabe, der schon viele überragende Persönlichkeiten des Musikgeschäfts tontechnisch betreut hat, ist über den Körperkontakt mit dem großen Star doch überrascht: „Meine Händ wäsch i oi Woch nemme!“, meint er im Nachhinein. Im Studio, so wird nach außen getragen, legt sich Miles zunächst erschöpft fünf Minuten lang auf ein Sofa und schaltet ab. Nach Mitternacht endlich entlockt er seiner Trompete die ersten Töne: „coole“ vibratolose Phrasen, sehr kurz jeweils, mit Dämpfer im verhaltenen Glanz. Gleich geht es zur Sache: die Begleitband groovt sich funky in das streng ausarrangierte Stück ein. Die beiden Bassgitarren (Joseph Foley McCreary und Richard Patterson) und die ebenfalls trocken abgenommenen Drums (Ricky Wellman) bewirken ein knallhartes metrisch-rhythmisches Fundament, die Keyboards (Deron Johnson) sorgen für weiche Klänge, das Altsaxophon Kenny Garretts sticht thematisch-melodisch hervor. Beim ersten Take steuert Miles Davis zu einem im moderaten Tempo gehaltenen Rocktitel nur wenige Töne bei. Mal ein „fill in“, dann im unisono mit seinem Bläserkollegen.

Freilich: Von Exaktheit ist hier keine Spur. Die Tongebung ist brüchig, oft setzt er unsauber an. Aber dies ist schließlich das ganz individuelle Markenzeichen von Miles Davis, der vom Bebop an der Seite von Charlie Parker, über den Cool Jazz bis zum heutigen elektroniifizierten Jazz Rock stilbildend an der Entwicklung der afro-amerikanischen Musik beteiligt war. Walter Scholz, der volkstümliche Trompetenvirtuose aus dem Schwarzwald, hätte sich derlei „Gurken“ bei seinen Aufnahmen im Tonstudio Bauer nicht erlauben dürfen. Aber er ist eben kein Miles Davis… 

Schwierigkeiten mit der Nachpegelung am Mischpult ergeben sich, als Miles Davis den Dämpfer abnimmt und lautstärker ins Mikrofon bläst. Nur ein paar Sekunden jeweils beteiligt sich Miles Davis hörbar an der Musik seiner Gruppe. Allerdings ist er der resolute Herrscher über alle Klänge. Seine jungen Musiker sind nicht gleichberechtigte musikalische Partner, sondern musikalische Zuträger. Selbst der erfahrene Tonmann Albrecht wundert sich, wie diese vor Miles Davis „kuschen“ und „die Hosen gestrichen voll“ haben. Aber Lehrjahre bei Miles Davis begründeten schon so manche steile Karriere. Siehe und höre etwa John Scofield, Mike Stern, Marcus Miller und Adam Holzman als aktuelle Beispiele. 

Den Satz, den Miles Davis nach der ersten Aufnahme krächzt, klingt dem Ludwigsburger Team wie Musik in den Ohren: „The sound is beautiful!“. Vollste Zufriedenheit also bei Miles Davis. Die Situation entspannt sich, die Stimmung wird gelöster. Bitte eine Tasse Tee für den Topkünstler. Gerne wird dieser Wunsch erfüllt, denn man kann somit nochmal einen Blick auf Miles Davis werfen. Für das Studio und den Regieraum haben nach Dekret des Managers nur die unmittelbar Beteiligten Zutritt. Das zweite Stück ist eine Ballade, ein Feature für Kenny Garrett auf dem Sopransax. Miles Davis bleibt stumm – aber er ist der Magier, der die musikalische Gestaltung und die Atmosphäre kreiert. Bei der letzten Nummer, wieder eine Rock-Komposition, greift Garrett zum knorrigen Bariton, und auch Miles Davis ist mit von der Partie, verausgabt sich völlig.

Er zeigt große Willenskraft und setzt die letzten körperlichen Reserven frei. Um halb vier hat man die drei Stücke mit den alternativen Takes im Kasten. Miles Davis wird aus dem Studio mehr hinausgetragen als dass er selbst zu Fuß geht. Die jungen Angestellten im Tonstudio Bauer meinen gar, dass er am Schluss geradezu „scheintot“ gewesen sei.

Aber in Aalen erlebte das Publikum, wie die Presse berichtete, einen „inspirierten, gut aufgelegten, sogar freundlichen Miles Davis“, der Veranstalter Ingo Hug jedoch hinter der Bühne einen total fertigen und ausgelaugten Künstler. 

So schnell ist der mythisch-mystische Miles aus den „Bauer Studios“ entschwunden, dass es Toningenieur Albrecht gar nicht so recht bemerkt. Er hatte eigentlich vorgehabt, Inlets von Miles-Davis-CDs signieren zu lassen. Außerdem wäre es schön gewesen, wenn eine von Herbert Joos erstellte Davis-Grafik, welche die Aufnahmestätte ziert, den Autogrammzug des verehrten Stars erhalten hätte. Für Handschriftliches bleibt Miles keine Zeit und keine Kraft.

Die Tondokumente sind freilich gesichert, die Bandspule mit rund 80 Minuten konservierter Musik wird dem Manager mitgegeben. In Amerika kann der Star seine Trompetenstimme „overdubben“ – wenn er sich in besserer Konstitution befindet. Dies hieße jedoch, dass die „Miles tones“ made in Ludwigsburg zur Makulatur verkommen würden. Erinnerungsfotos durften nicht geschossen werden. Die Stern/Star-Stunde(n) von Miles in Ludwigsburg haftet jedoch im Gedächtnis eines jeden, dem der Trompeter bei seinem denkwürdigen Gastspiel in den „Bauer Studios“ mittelbar und unmittelbar gewahr wurde. 

Aura, Mythos, Mystik – Miles Davis was here. 

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