Da steht er zu fast mitternächtlicher Stunde auf der Bühne am Rhein-Nahe-Eck: schmächtig, ja fast zierlich hinter dem Tenorsaxophon und hebt zu einem jener Läufe an, die ihm den Ruf „Little Giant“ eingebracht haben. In „How high the moon“ ist ein Solo voller Feeling, erinnert ein wenig an den kühlen Ton von Lester Young, entfernt sich raffiniert von den Grundharmonien, um später, wenn die Sängerin Shawn Montiero einsetzt, wieder darauf zurückzukommen. Aber es fehlt doch an der Kraft der früheren Jahre. Ganz anders der Trompeter Dusko Goykovich, dessen strahlender Trompetenton weit über den zu dieser Zeit gut gefüllten Platz trägt, der stählern in die High Notes steigt. Griffin, Goykovich und Montiero werden begleitet vom Trio des Drummers Bobby Durham, einer exzellenter Rhythmusgruppe, die nach dem Auftritt der Max-Greger-Familie deutlich macht, was es heißt „in time“ und auf den Punkt zu spielen.
Max Greger ist nahezu 80 und ein wenig kurzatmig, aber noch immer als Entertainer der bajuwarischen Art grob und charmant zugleich. So klingt auch sein Spiel auf dem Tenorsaxohon, direkt und gradlinig, während sein Sohn Max am Flügel eher verspielter wirkt und in der harmonischen Raffinesse seinen Vater übertrifft. Bliebe noch der Enkel, der als Sänger mit Louis-Armstrong-Touch dem Publikum mit „What a wonderful world“ schmeichelt. Doch es gibt auch Höhepunkte im Programm – etwa das Greger-Duo in Ellingtons „Sophisticated Lady“ oder der swingende und groovende „C-Jam Blues“ mit Goykovich am Flügelhorn. Gespickt mit Gimmicks wie der Waschbrett-Krawatte trommelt Schlagzeuger Max Kinkel sein Solo über Ellingtons „Caravan“ – und wird vom Publikum gefeiert.
Der Mainstream des Jazz ist allerdings nur ein Stein im Zentrum des Binger Festival-Puzzles. Mehr am Rand bewegt sich der Rhythm&Blues von Charly Augschölls Hotline sowie der stampfende Big City Blues Manfred Häder mit der Sängerin Jessica Born, der Folk-Jazz der Polish Explosion des Bassisten Vitold Rek und das freie Experiment des Berliner Trios „Der rote Bereich“.
Auf der kleinen Bühne „Freidhof“ lässt Frank Möbus seine Gitarre unter der Elektronik in jaulenden Glissandi heulen, Rudi Mahall die Bassklarinette knarzend schnattern und Oliver Steidle das Schlagzeug pulsieren. Die Musik ist so ausgefallen, ja fast kabarettistisch wie die Ansagen und die Titel: „50 000 kleine Wichtigtuer“ oder „Unser Sportheim“, das das Trio dem Verständnis des Publikums zuliebe, nach dem Finale gleich nochmals im „richtigen“ Tempo anspielt. Harmonien werden zerfasert, Metren aufgelöst, die Ernsthaftigkeit des Free-Jazz aus den 60er Jahren auf den Kopf gestellt.
Das Angebot bei Bingen swingt ist so groß, dass die Wahl zur Qual wird. Da streicht man mit großem Bedauern „Berlin Philharmonic Jazz Group“ aus dem Katalog, um hinterher von einem Freund zu erfahren, dass ihre Verbindung von Streichern mit Jazz und Rock zum Feinsten gehört.
Nicht fehl gingen die ungezählten Freunde von Nils Landgren, der mit seiner stampfenden Funk Unit das Publikum mitriss. Fetter und starker Groove vom Keyboards, Bass und einem der besten Schlagzeuger Deutschlands, Wolfgang Haffner, dazu der satte Sound von Saxophon und der feuerroten Posaune des Bandleaders, der antreibende Gesang der Rapper – das alles ergibt eine Mischung aus Soul und Funk, die die Landgren-Maxime „I´m gonna funk the world tonight“ rechtfertigt.
Ebenfalls aus Schweden kamen zuvor die Sängerin Annika Skoglund und der Arrangeur Örjan Fahlström, der die Songs von Elton John auf bestechende Weise jazzig arrangierte und die hr-Bigband gut im Griff hatte. Skoglund reiht sich in die Phalanx der skandinavischen Vokal-Talente von Victoria Tolstoy, Rebekka Bakken und Silje Nergaard ein, die Pop und Jazz vorzüglich integrieren.
Die Phoenix Foundation bewies als Landesjugendjazzorchester, dass ausreichend Nachwuchstalente in Rheinland-Pfalz heranwachsen, die unter der sensiblen Führung von Frank Reichert neben einem Saxophon-Star wie Greg Abate durchaus bestehen können.
Perlende Romantizismen, percussive Akkord-Cluster, spannungsfördernde Ostinati sowie die Besinnung auf die Blues-Roots, die europäische Klassik und die Freiheiten des Jazz bestimmten das Solo-Spiel des Pianisten Wolfgang Dauner, der auf dem dicht gefüllten Freidhof die Zuschauer in seinen Bann zog. Unterdessen trafen sich auf dem Bürgermeister-Neff-Platz zwei Altmeister des Saxophons: Emil Mangelsdorff und Charlie Mariano. Zwei Musiker, die mit der Reife des Alters und der Erfahrung aus mehr als sechs Jahrzehnten einen zeitlosen, modernen Jazz mit weit schwingenden und ebenso exotischen wie melodischen Läufen präsentieren. Begleitet wurden sie von einer exzellenten Rhythmusgruppe mit Jörg Reiter am Piano, dem Bassisten David King und dem Schlagzeuger Michael Küttner.
Am Vormittag stieg der Gitarrist Jürgen Schwab vor dem Auftritt mit seinem swingenden und der Leichtigkeit des Latin verpflichteten Trios – in dem der harmonische Zusammenklang des transparent gespielten Vibraphons mit dem filigranen Gitarrenlinien faszinierte – bei dem Duo „Down Home Perculators“ ein. Klaus „Mojo“ Kilian und Bernd „Snoopy“ Simon stimmten die Zuschauer mit erdigem und traditionsverbundenem Blues auf einen Tag ein, der abends am Rheinufer mit dem dampfendem Cajun und Zydeco von Yannick Monot und seiner Nouvelle France endete. Die Zuschauer tanzten auf dem rauen Pflaster der Uferpromenade zu den aufreizenden tänzerischen Rhythmen des Akkordeonisten und seines Geigers Eckehardt Limberg.
Mit der NDR-Bigband und dem Posaunisten Joe Gallardo ging das dreitägige Festival zu Ende, nachdem Multitalent Erika Stucky mit dem alternativen schweizerischen Volksmusik-Alphorn-Trio „Roots of Communication“ einen letzten Höhepunkt gesetzt hatte. In diesem Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturkreise entstanden ungewohnte, aber hörenswerte Klangräume, die einem Festival dieser Bandbreite den letzten Schliff verliehen. Die Schweizerin mit ihrem Alpen-Voodoo, den schrägen Jodlern, den „falschen“ Sinatra-Songs sowie dem Alphorn-Grummeln und den Muschel-Scats von Robert Morgenthaler und Jean-Jacques Pedretti war die größte Überraschung dieses an ungewöhnlichen Klängen nicht armen Festivals.