Wes Montgomery: Die Saitensprünge
des Perfektionisten

Die Gitarre und noch mehr. Sein warmer, weicher und schnörkelloser Klang war – und ist – ein Hochgenuß für jeden, der ihn auch nur einmal gehört hat. Seinem Instrument eroberte er nicht nur technisch wie improvisatorisch Felder, die bis dahin für unvorstellbar gehalten worden waren, sondern setzte damit zugleich verbindliche Standards für jeden Jazz-Gitarristen, der nach ihm kam. Mit seinem leisen wie gleichwohl hochenergetischen Spiel wies er – ohne es freilich zu wollen oder auch nur zu ahnen – der späteren Synthese von Jazz und Rock mit den Weg, und auch, wenn er in seinen letzten Jahren ins Kommerz-Lager halb abwanderte, halb abgedrängt wurde, so schmälert das doch sein bleibendes Vermächtnis nicht im Geringsten: Mit Wes Montgomery stehen wir vor Vita, Werk und Wirkungsgeschichte eines Mannes, dessen Name trotz manches anderen Saiten-Springers doch fast schon als Synonym steht für gleich eine ganze Epoche der Jazz-Gitarre.

Jungfernfahrt als Methusalem

"Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Zeit", läßt Goethe im "Torquato" Leonore eher en passant bemerken, und in der Tat sind es ja nur zu häufig die sogenannten Wunderkinder, die dann ziemlich schnell die in sie gesetzten Erwartungen am nachhaltigsten enttäuschen. Denn zwar hat Mozart auf der einen Seite von den ersten Klavierstücken, die er schon als Dreikäsehoch schrieb, bis zum "Requiem", über dessen Komposition er starb, mit knapp 34 Jahren ein Werk zu Papier gebracht, dessen Gesamteinspielung heute einige hundert CDs füllt. Doch auf der anderen Seite ist von Max Bruch, dem nach seinem frühen, wunderschönen Violinkonzert fast alles, was er danach anfaßte, im Wortsinne zu Bruch wurde, über Arthur Rimbaud, der nach dem fulminanten Gedicht-Einstand "Une saison en enfer" mit 20 schon die Literatur wieder an den Nagel hängte, bis hin zum mit 35 bereits ausgebrannten Jaco Pastorius die Liste der frühzeitig erloschenen Vulkane so kurz nun auch wieder nicht, und so tragisch ihr Tod eigentlich war, so können wir im Nachhinein doch fast froh darüber sein, daß Janis Joplin schon mit 27 das Zeitliche segnete, weil die Vorstellung einer heute 54jährigen lächerlich umherlallenden Alten noch unerträglicher wäre. Und in diesem Kontext können wir nicht nur, sondern müssen vielleicht sogar dem Schicksal dankbar sein, daß es Wes Montgomery zunächst erst einmal ausgiebig in eben jenem Goetheschen Strom der Zeit reifen ließ, bevor es ihn – dann allerdings mit Macht – ins Rampenlicht stellte: Als er seine allererste eigene Platte aufnahm, war er im für einen Jazz-Musiker fast schon biblischen Alter von 34 Jahren.

Zahlen, Daten, Fakten

Ein Spätzünder, doch immer schön der Reihe nach: Geboren am 6. März 1923 in Indianapolis, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Indiana, bekommt John Leslie Montgomery mit 13 seine erste Gitarre, hört mit 17 Django Reinhardt und Les Paul, kauft sich mit 18 ein paar Monate nach seiner Hochzeit eine E-Gitarre nebst Verstärker und hat sein Schlüssel-Erlebnis, als er 1943 im Radio bei einem Auftritt Benny Goodmans Charlie Christians Improvisationen über "Solo Flight" hört. Fasziniert von den unkonventionellen Linien, kauft sich der Autodidakt Platten seines neuen Idols, spielt dessen Chorusse notengetreu ein halbes Jahr lang so lange rauf und runter, bis er sie auswendig und im Schlaf beherrscht, und verdient sein erstes Geld als Musiker, indem er sie in einem Club interpretiert. Von 1948 bis 1950 bei Lionel Hampton und dort von seinen Kollegen, weil er weder raucht noch trinkt, mit dem liebevollen Spitznamen "The Reverend", der Pfarrer, belegt, geht Montgomery nach dem Ausstieg aus der Big Band zurück nach Indianapolis, spielt in lokalen Bands, behält aber, da er Frau und sechs Kinder zu ernähren hat, ebenso wie aus mangelndem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten seinen regulären Job als Löter in einer Radio-Fabrik bei und lebt seine Leidenschaft nervenaufreibend in der Freizeit aus, indem er über Jahre hinweg nachts in gleich zwei Clubs hintereinander auftritt, worin später einige Kritiker einen der Gründe für seinen frühen Tod sehen werden.

Mitte der 50er Jahre Chef einer eigenen Band und von Cannonball Adderley bei einer Tournee nach Feierabend durch Zufall entdeckt, nimmt Montgomery durch die Vermittlung des Alt-Saxophonisten im Herbst 1959 bei "Riverside" seine erste eigene Platte auf, wird auf Anhieb Poll-Sieger in der Kategorie "New Star" des US-Fachmagazins "Down Beat", tritt nach früherem gelegentlichen Mitspiel fest der Band "Mastersounds" seiner Brüder, des Pianisten und Vibraphonisten Charles "Buddy" Montgomery und des Bassisten William "Monk" Montgomery, bei und startet eine Blitzkarriere sondersgleichen: In wechselnden Besetzungen unter eigenem Namen, an deren Anfang ein Trio mit dem Organisten Melvin Rhyne und dem Schlagzeuger Paul Parker steht, wie an der Seite bereits so renommierter Stars wie – logo – Cannonball Adderley und Milt Jackson, Johnny Griffin, George Shearing und John Coltrane liefert der Senkrechtstarter in kurzer Zeit eine vielbeachtete Platte nach der anderen ab, wird auf Tourneen und bei Solo-Auftritten ebenso gefeiert wie in Fachblättern und Kritiken, räumt für die nächsten Jahre bei allen wichtigen Polls in Serie ab und ist bereits 1960 bei der Einspielung eines der Evergreens der Jazz-Geschichte schlechthin dabei, als er mit Nat Adderley für dessen "Work Song" ins Studio geht.

Doch wo so oft Lebensbahnen und die von Künstlern nahezu immer nicht ohne Zäsuren über die Runden kommen, da macht auch der Gitarrist mit den begnadeten Fingern keine Ausnahme – es ist das Jahr 1964, das zur großen Wende zwar nicht der Karriere, aber doch der künstlerischen Bilanz Wes Montgomerys wird, denn Anfang der 60er für zwei Jahre an die Westküste umgezogen und beim neuerlichen Zusammenspiel mit seinen Brüdern wie auch erneut unter anderem mit einem eigenen Gitarre-Orgel-Schlagzeug-Trio hochgelobt, wechselt der – so später Nat Adderley – "Mann der vielen Unstimmigkeiten" von "Riverside" zu "Verve", wo er unter dem gnadenlosen Einfluß des Hausproduzenten Creed Taylor, der es später mit der Fahrstuhl-Musik seines eigenen "CTI"-Labels noch zu tragischer Berühmtheit bringen soll, nolens volens in Richtung Pop-Jazz gedrängt wird, was zwar seine Talente ziemlich austrocknen läßt, ihm dafür aber ein breiteres Publikum und ergo auch bessere Platten-Verkäufe einbringt. So gewinnt Montgomery denn auch 1966 für seine Platte "Goin’ Out Of My Head" einen "Grammy" in der Sparte "beste Instrumental-Jazz-LP", und das Album "A Day In The Life", inzwischen für Herb Alperts A & M-Label aufgenommen, führt 1967 gar 37 Wochen lang die Bestseller-Liste an und wird zur bestverkauften Jazz-LP des Jahres überhaupt. Daneben freilich läßt Montgomery bei Live-Auftritten – vorzugsweise mit der Ex-Rhythmus-Gruppe des Miles-Davis-Sextetts Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb – erkennen, welches musikalische Potential durch sein Abdriften in den Kommerz brach liegt, und als er am 15. Juni 1968 im Anschluß an eine Tournee einem Herzschlag erliegt, stirbt der Musiker, dem Gitarrist und "New Grove Dictionary Of Jazz"-Co-Autor Jim Ferguson anläßlich der Veröffentlichung bis dahin unbekannter Alternativ-Takes 1996 bescheinigte: "Heute, über 25 Jahre nach seinem viel zu frühen Tod, repräsentiert sein Werk noch immer den höchsten Standard, an dem sich die Mainstream-Jazz-Gitarre generell messen lassen muß".

Leiser Daumen aus Rücksicht auf die Nachbarn

Eine ganze Welt für sich, komprimiert in sechs Saiten – es waren nur wenige Jahre, die Wes Montgomery im Rampenlicht stand von 1959 bis zum Abstieg in die Belanglosigkeit, aber doch hat das gut halbe Jahrzehnt ausgereicht, seinen Namen unwiderruflich unter den Größen des Jazz zu verankern, die an seiner Geschichte mitgeschrieben haben. So sind denn auch die Archive voll von Elogen, Hymnen und Artikel gewordenen Begeisterungsrufen: Daß er auf das Plektrum verzichtete und stattdessen das leise Daumenspiel erfand, weil er einst beim Üben die Nachbarn nicht stören wollte, gehört zu den Standard-Überlieferungen, die liebevoll von Generation zu Generation weitergereicht werden, mit seinen Formeln vom "weichen, runden Ton", dem "eleganten Swing" und dem "klischeefreien Spiel" bringt der englische Publizist John Fordham in seinem Buch "Jazz" den Tenor mannigfaltigster Auseinandersetzungen mit Montgomery auf den kürzesten Nenner, "er verband eine faszinierende, den meisten Gitarristen damals kaum faßliche Technik des Oktavenspiels mit einer harten und klaren Beschränkung auf Aussagen", attestiert Joachim Ernst Berendt in seinem Standard-Werk "Das Jazz-Buch", und das "Down Beat"- und "San Francisco Chronicle"-Statement von US-Kritiker Ralph J. Gleason vom "Besten, was der Gitarre seit Charlie Christian passiert ist" ist in Insider-Kreisen fast schon so zum geflügelten Wort geworden wie "Harry, hol’ schon mal den Wagen" bei manischen Fernseh-Krimi-Sehern.

Eine Big Band namens Gitarre

Wes Montgomery, das unobskure Objekt der Begierde gleich einer ganzen Zunft von Schreibern, aber doch nicht nur, denn wo die Urteile von prominenten Kritikern wie griffelnden Nobodies über den wohl einflußreichsten Gitarristen der letzten 30 Jahre doch nur der Blick von unten hoch zum Denkmal sind, da werfen die Erinnerungen und Würdigungen von Epigonen wie Kollegen ein zusätzliches, weil von Gleich zu Gleich ausgestrahltes Licht auf den Mann, der Einzelnoten-Spiel, Oktav-Sprünge und Akkord-Griffe aufs Faszinierendste verschmolz: "Ich denke immer an die Schönheit seines Klangs und seines Anschlags, und es war Montgomery, der mich inspiriert hat, nach einem schönen Klang zu suchen", bekennt beispielsweise Fusion-Gitarrist Steve Khan, John Scofield schwärmt: "Wenn er spielte, war es fast wie Big Band auf der Gitarre. Er war ein wunderbarer Musiker, der noch die Hölle zum Singen gebracht hätte", und bereits 1959, wenige Monate nach dem Auftauchen Montgomerys auf der Szene, hatte Gunter Schuller in der "Jazz Review" erklärt: "Seine Soli lassen einen ununterbrochen am äußersten Rand aller Ränder taumeln. Auf seinen Höhepunkten wird sein Spiel derart mitreißend, daß man glaubt, nicht über genug physische Kräfte zu verfügen, es zu überleben, und mit fortschreitender Intensität verdichten sich Mann und Instrument immer mehr zu einer untrennbaren Einheit".

Den Kanon für die Zukunft festgeschrieben

Natürlich hat Wes Montgomery die Gitarre im Jazz nicht erfunden, denn die Geschichte des Saiten-Instruments in der schwarz-weißen Musik ist ebenso alt wie sie selbst, wenngleich es auch, aus Rußland über Irland eingeschleppt, in den ersten Jahrzehnten als Banjo mit seinem eintönigen "Plink-Plink" Karriere machte und nicht zuletzt durch das Dixie-Revival von Barber, Bilk und Papa Bue in den 50er und 60er Jahren zeitweilig derart populär wurde, daß Anfang 1960 die beiden dänischen Sänger-Knaben Jan & Kjeld mit ihrem "Banjo-Boy" sogar einen deutschen Schlager-Evergreen landeten. Doch auch im Jazz selbst war es ein weiter Weg, den die zunächst Darm- und später Metall-Saiten zu gehen hatten vom reinen Hintergrund über die Sprünge Charlie Christians bis zum souverän-emanzipierten Virtuosentum zwischen Kenny Burrell, Charlie Byrd und Jim Hall auf der traditionellen und John McLaughlin, John Scofield oder Terje Rypdal auf der – wenn man es denn so nennen will – progressiven Seite.

Eine Entwicklung, in die Wes Montgomery nicht nur rein platzte wie der Lotto-Sechser in den bis dahin friedlichen Sonnabend-Abend, sondern ziemlich bald auch schon zu einem ihrer Dreh- und Angelpunkte wurde: "Vor Charlie Christian war die Gitarre in erster Linie Rhythmus- und harmonisches Begleit-Instrument. Die Sänger des Folk Blues, des Work-Song und der alten Blues-Balladen begleiteten sich auf Gitarren oder Banjos, und in dem großen und weiten Bereich der ‚Vorgeschichte des Jazz‘ war die Gitarre bzw. das Banjo das wichtigste und oft auch das einzige Instrument", beleuchtet Berendt im "Jazz-Buch" im Kurzdurchgang die Historie, "von hier aus gewann die Gitarre eine Tradition, aus der heraus Sänger wie Leadbelly oder Big Bill Broonzy Melodie-Linien gespielt haben, wie sie die eigentlichen Jazz-Gitarristen erst viel später fanden", dröselt der Gründervater der deutschen Jazz-Publizistik den roten Faden der langen Chronik auf, in die Jim Ferguson Montgomery gleich mittenrein stellt: "Er spielte nicht nur eine großartige Jazz-Gitarre, sondern definierte sie auch auf dauerhafte Weise und schrieb über seinen Umgang mit dem Instrument im allgemeinen hinaus einen Kanon fest, der weit in die Zukunft hineinreichte", konstatiert der Autor des Begleittextes zur vor einigen Jahren veröffentlichten 12-CD-Box von Montgomerys "Riverside"-Gesamt-Aufnahmen, und US-Kritiker Ronald Atkins schließlich spezifiziert: "Er entdeckte unter anderem auch, wie man die Melodielinie verdoppeln kann, indem er mit der Innenseite des Daumens zwei Saiten gleichzeitig zum Schwingen brachte, wandte sich so ganzen Akkorden zu und eroberte schließlich Möglichkeiten, die man bis dahin als undenkbar auf der elektrischen Gitarre angesehen hatte".

So explosiv wie B. B. King und Jimi Hendrix

Wie gesagt: Erfunden hat Wes Montgomery die Gitarre im Jazz nicht, aber doch reicht der Einfluß seines – so der "New Grove Dictionary Of Jazz" – "ernsthaften und unspektakulären Spiels" weiter, als er es sich vermutlich selbst hätte jemals vorstellen können. Denn die 60er Jahre waren zwar für den Jazz eine eher auf der Stelle tretende, mühselige Durststrecke, für die populäre Musik insgesamt jedoch eine vergleichsweise virulente Epoche, deren Quintessenz sich in der griffigen Formel der "Gitarren-Revolution" komprimierte. Und auch, wenn der Jazz im allgemeinen vorgab, bewußt wegzuhören, so blieb er klammheimlich doch nicht unbeleckt von dem, was um ihn herum vorging, und zu vermuten steht, daß auch Montgomery die Berichte zur Pop-Lage der Nation durchaus wahrnahm. Und so ist es denn auf der anderen Seite auch kein Wunder, daß sich eine ganze Reihe von Gitarristen, die dann ein paar Jahre nach seinem Tod zu Zeiten von "Rock-Jazz" und "Fusion" lautstark von sich hören machten, zunächst an Montgomery orientiert hatten, bevor sie sein Vermächtnis in die Sprache der Phon-Orgien übertrugen: Die eben schon erwähnten John Scofield und Steve Khan etwa, in abgewandelter Form Larry Coryell und Pat Metheny und auch und vor allem George Benson, bevor er sich – und auch darin noch ein gelehriger Schüler seines großen Idols – ebenfalls dem schnell verdienten Dollar zuwandte: "In einem gewissen Sinn war Wes Montgomery einer jener Musiker, die die Basis bildeten für die späteren Experimente, den Rhythmus und die Energie des Rock und die Harmonien des Jazz zu integrieren", bescheinigt denn auch der "Penguin Guide To Jazz On CD", und Joachim Ernst Berendt reiht ihn gar in die alles überlagernde Trinität der Gitarreros quer durch alle Lager ein: "Es sind drei Musiker, die den eigentlichen Zündsatz für die Gitarren-Explosion in den 60er Jahren gebildet haben", diagnostiziert Deutschlands Ex-"Jazz-Papst", "im Blues war es B. B. King, im Rock Jimi Hendrix und im Jazz Wes Montgomery".

Das Instrument als brüderlicher Trost

Daß Familienbande besonders fest halten, ist so neu nun auch wieder nicht, und daß bisweilen die Äpfel, die von einem Stamm fallen, am Boden dann nicht allzuweit auseinanderliegen, ist auch im Jazz keine unbekannte Tatsache: Wilbur und Sidney De Paris, Tommy und Jimmy Dorsey, Cannonball und Nat Adderley, Stanley und Tommy Turrentine, Percy und Albert Heath, die Clans von Elvin, Hank und Thad Jones wie von Wynton, Branford und Delfeayo Marsalis oder – in Deutschland – beispielsweise Rolf und Joachim Kühn oder Albert und Emil Mangelsdorff – die Liste der Geschwister, die sich – teils enger miteinander verbandelt, teils auf entfernteren Wegen – ihren festen Platz in der Geschichte eroberten, wäre für sich allein schon einmal eine reizvolle Aufgabe für Theoretiker.

Und auch Wes Montgomery stand nicht im luftleeren Raum, sondern war eingebunden in den Kontext gleich einer ganzen Sippe: Von den vier Geschwistern, mit denen er aufwuchs, waren es einzig Schwester Ervena, die sich mit Piano-Spielen in der Kirche zufriedengab, und Bruder Thomas, dessen Schlagzeuger-Karriere ein früher Tod mit 18 ein vorzeitiges Ende setzte, die nicht die Leidenschaft zur Musik früher oder später zum Broterwerb umfunktionierten, und während Wes noch im heimischen Indianapolis zwischen Alltagsjob und nächtlicher Ambition pendelte, war das Markenzeichen "Montgomery Brothers" alias Monk und Buddy zumindest in Fachkreisen schon längst ein fester Begriff. Und auch, wenn die erste feste Gruppe der drei Brüder schon bald wieder auseinanderbrach und auch die zweite sich im wesentlichen auf Platteneinspielungen beschränkte, so hielten doch bis zum Tod des – so später John Scofield – "Cannonball Adderley der Gitarre" die Bande, die schon in der Kindheit das Familienleben über die Musik definiert hatten: Schließlich war es Bruder Monk gewesen, der sich von seinem Taschengeld mühsam 13 Dollar abgespart hatte und, um Wes über die Trennung der Eltern hinwegzutrösten, ihm davon seine erste Gitarre schenkte – eine aus der Rückschau nachgerade schon charakteristische Geste, die weit über das Kinderzimmer von einst hinausreichen sollte.

Denn Wes Montgomery im Brüder-Verbund – das war das ins Platten-Studio verlagerte Familientreffen, doch daß freilich ausgerechnet der "Spätzünder" Wes seine Geschwister in den Schatten stellte, mutet fast schon an wie eine Ironie der Geschichte: "Er bediente sich der zwar unauffälligen, gleichwohl kompetenten Talente seiner Brüder", rückt Kritiker und Gitarrist Jean Charles Costa im "Rolling Stone Record Guide" die Dimensionen gerade, und in diesem Zusammenhang erschließt sich neben all den anderen Hymnen auf Wes Montgomery eine zusätzliche Dimension, wenn Bruder Buddy später rückblickend erklärte: "Im Vergleich zu anderen Gitarristen, mit denen ich gespielt habe, war Wes zupackender, inspirierter und kreativer. Er spielte aus der Seele heraus, und wann immer und was immer er auch spielte – er hatte immer etwas Interessantes zu erzählen".

Vom fünften Rad am Wagen zum Co-Chauffeur

Als Wes Montgomery im Mai und Juni 1960 in Los Angeles und San Franciscoo mit dem Alto-Star für vier Titel der LP "Cannonball Adderley And The Poll-Winners" ins Studio ging, da war das nicht nur die Begegnung von Entdeckung und Entdecker, sondern zugleich auch Gradmesser für die Siebenmeilenschritte, mit denen Montgomery auf der Gitarre vorwärtsstürmte – genau festlegen läßt sich der Zeitpunkt natürlich nicht, denn anders als die "richtige" Historie hat die Geschichte des Jazz im Allgemeinen keine einem 14. Juli 1789, einem 8. Mai 1945 oder auch einem 9. November 1989 vergleichbaren fixen Daten. Aber doch hatte sich irgendwann zwischen den späten 50ern und den frühen 60ern auch die Gitarre nicht nur aus ihrer einst rein dienenden Funktion befreit, sondern sich nach dem Piano und noch vor dem Baß in die Front-Linie der Melodie-Instrumente mit allem Drum und Dran hochgehangelt, wobei Drum und Dran heißt: Was einst Domäne von Saxophon und Trompete und allenfals noch Klarinette und Posaune war, sprang nun unter der griffigen Formel "hornartige Linien" von Klappe und Ventil auch auf die sechs Saiten über. Und es war Wes Montgomery, der seinem Instrument zwar nicht über Nacht, aber doch innerhalb kurzer Zeit auch da Welten eroberte, von denen ein paar Jahre vorher noch niemand zu träumen gewagt hätte und die andererseits auch heute noch verbindlich sind für nahezu jeden, der sich über Saiten, Steg und Griffbrett hermacht: "Montgomerys Spiel hat viel mit der Intensität der Attacken aktueller Saxophonisten wie John Coltrane und Sonny Rollins gemein", hatte denn auch bereits Anfang der 60er "New York Times"-Kritiker John S. Wilson erkannt, Jim Ferguson urteilt rückblickend: "Charlie Christian wies den Weg zur horn-inspirierten Spielweise, aber Wes Montgomery brachte die Dinge zu ihrer logischen Konklusion", und "Down Beat"-Mitherausgeber Don DeMicheal schließlich befand einst kurz und bündig: "Montgomery spielte post-natalen Bebop". Und so war die Gitarre, mit wem und mit welchem Instrument auch immer Montgomery zusammenspielte, nicht länger fünftes Rad am Wagen, sondern saß als Co-Chauffeur mit am Steuer.

Unangestrengt durch eiserne Disziplin

Daß es von der Angst vor Liebesverlust zum Perfektionismus ein direkter und noch dazu vergleichsweise kurzer Weg ist, ist nicht nur für Psychologen ein mehr als offenes Geheimnis, daß andererseits so mancher schnell hingerotzte Genie-Streich schon schnell der Vergessenheit anheimfällt, wird er nicht mit Disziplin und kontinuierlicher Arbeit unterfüttert, hat selbst bis in die alte Bauern-Regel "Ohne Fleiß kein Preis" seinen Niederschlag gefunden, und so ist es zwar nicht falsch, aber doch eben nur die halbe Wahrheit, wenn der "Penguin Guide To Jazz On CD" Montgomery bescheinigt: "Er strahlte jene Aura der Unangestrengtheit aus, die im Jazz ziemlich anrüchig ist, denn ein bißchen Schweiß und Leid werden durch die Bank als unerläßlich betrachtet. Aber Montgomery spielte mit der Beiläufigkeit von Gesprächen mit Freunden auf der Veranda seines Hauses." Denn was da so mit leichter Hand hingeworfen erschien, war nichtsdestoweniger das Ergebnis von – freilich klammheimlichem – permanentem Bemühen. Heißt: Es war aus einem irgendwo im weiten Feld zwischen Bescheidenheit, Unsicherheit und mangelndem Selbstvertrauen angesiedelten Gefühl heraus, daß Montgomery ein Leben lang nie so richtig mit sich zufrieden war, was sich konkret beispielsweise bei Platten-Sessions niederschlug: "Er war ein Improvisator, der beim ersten Take auf den Punkt traf, und zwar nach jedermanns Standard", attestiert beispielsweise Jim Ferguson und fügt zugleich hinzu: "Außer vielleicht dem seinen". Denn auch das war Wes Montgomery: Der unerbittlichste Kritiker seiner selbst, der nie fünfe grade sein ließ, der notorische Sucher nach dem Nonplusultra, dessen "Riverside"-Aufnahmen denn auch zwar "nur" 118 Titel umfassen, deren Gesamtausgabe sich jedoch bezeichnenderweise durch Zweit- und Dritt-Takes auf insgesamt 158 unterschiedliche Matrix-Nummern hochsummiert, und der ewige Nörgler in eigener Sache, der sich Kritik an seiner Musik ernsthaft zu Herzen nahm und in dessen Aufnahme-Protokollen "Riverside"-Mitbesitzer und -Produzent Orrin Keepnews deshalb häufig notierte: "Montgomery gefällt sein Solo nicht", an einer Stelle gar: "Allen anderen dagegen schon". "Bereits früh hatte er erkannt, daß improvisierte Musik eine lebenslange und abenteuerliche Herausforderung ist", brachte denn auch schon Mitte der 60er US-Kritiker Burt Korall einen weiteren wesentlichen Anteil an Montgomerys Erfolg auf den Punkt, "er wußte, daß einem nichts in den Schoß fällt und daß ein Großteil der Faszination dieser Art von Musik aus der immer weiter fortschreitenden Selbsterkundung und ihrer Umsetzung herrührt".

Saccharin aus vollen Creed-Taylor-Eimern

"Wie gut Wes Montgomery in seiner Hauptphase war, ehe er ins kommerzielle Lager abwanderte, kann man jetzt überprüfen", bewertete die Zeitschrift "Audio" und bewarb vor ein paar Jahren "Zweitausendeins" die Box mit Montgomerys kompletten "Riverside"-Aufnahmen und legt damit nicht nur den Finger in die Wunde, sondern stößt ihn sogar gleich mitten rein und dreht ihn auch noch darin herum. Denn ähnlich wie Jimmy Smith, der nach seinem brillanten Debut bei "Blue Note" auf Norman Granz’ "Verve"-Label künstlerisch unter die Räder kam und mit dem Montgomery denn auch prompt ein paar Platten zusammen aufnahm, so fiel nach dem Organisten auch der Gitarrist dem damaligen "Verve"-Hausproduzenten Creed Taylor in die Hände, der vor dem Background von – wenn es hochkam – rundgelutschten Big-Band-Arrangements oder aber – im schlimmeren Fall – von schmierend-schmierigen Streicherklängen und mit Titeln wie "The Shadow Of Your Smile", "California Dreamin’" und schließlich gar "Chim Chim Cheree" dem inspirierten Improvisator immer mehr die Flügel beschnitt und den eleganten Reiter von einst zum ohnmächtig-hilflosen Jockey auf einem sich verselbständigenden Gaul degradierte, worunter Montgomery selbst allem Dollar-Segen zum Trotz litt wie ein geprügelter Hund: "1962 hatte Wes in einem ‚Newsweek‘-Interview gesagt: ‚Ich kenne die Melodie, und du kennst sie. Warum also sollte ich sie spielen?‘ Aber ein paar Jahre später tat er nichts mehr als ‚Melodie‘ zu spielen, und gegen Ende seines Lebens meinte er: ‚Ich bin immer deprimiert über mein Spiel‘", zitiert Berendt im "Jazz-Buch" die bittere Bilanz des tragischen Abstiegs.

So kann man denn auch beispielsweise das 1963 mit Streicherbegleitung eingespielte "In The Wee Small Hours Of The Morning" über den reinen Take hinaus durchaus auch schon als fast so etwas wie ein Omen für und Fingerzeige auf künftige Desaster ansehen – was in der letzten "Riverside"-Phase der – allerdings schon damals nur noch schwer erträgliche – Ausnahme-Ausrutscher war, wurde kurz darauf die Regel: Es war schlicht grausliche Musik, was Montgomery in seinen letzten Jahren zu Platte brachte, war – so Jean Charles Costa im "Rolling Stone Record Guide" – mit den "von Saccharin-Orchestrierungen erbarmungslos massakrierten Songs für Jazz-Enthusiasten Anlaß zu unsäglichem Leid", war Musik, die nur zu fatal an jene Art von Unterhaltung erinnerte, die uns auch deutsche Rundfunk-Stationen noch in den 60ern als "Zwischen Tag und Traum" oder auch "Melodien zur blauen Stunde" um die Ohren hauten: "Creed Taylor hat Montgomery allein nach dem Gesichtspunkt der Verkäuflichkeit produziert", stellt denn auch Berendt ohne Umschweife fest und analysiert mit dem konkreten auch den allgemeinen Fall: "Zugleich allerdings ist Montgomery auch ein Musterbeispiel für den Vermarktungs-Prozeß, dem so viele Jazz-Musiker unterworfen sind".

So ganz allerdings – und das in Parenthese – so ganz freilich sollten wir dem Schleier der Nächstenliebe vielleicht doch nicht trauen, der sich seither mildtätig über das einzige unrühmliche Kapitel in der Vita Wes Montgomerys deckt, denn wer weiß: Womöglich feiert bei unserer derzeitigen Renaissance der demonstrativen Gefühligkeit zwischen "Kuschel-Klassik" und "Schmuse-Swing" eines Tages auch noch die Musik ein Comeback, die wir einst – sicher nicht ganz vornehm, deswegen jedoch nicht minder treffend – unter dem Aktenzeichen "Schlüpferstürmer" in die Zentralablage versenkt haben.

Hornist auf sechs dünnen Saiten

Wes Montgomery, der flinke Greifer, der der Gitarre im Jazz, ohne eigentlich je selbst darüber nachzudenken, doch jede Menge neuer Wege erschloß, der Hornist auf den sechs Saiten, der die zeitgenössische Improvisation auf dem Griffbrett heimisch machte, der Perfektionist, der als die strengste Jury seiner selbst nie zufrieden mit sich war und aus dem vermeintlichen Ungenügen immer wieder neue Funken schlug, der Wanderer zwischen den Welten von Kunst und Kommerz, der sich mit seinem Abrutschen in die Belanglosigkeit in seiner letzten Lebens-Phase gleichwohl nur vorübergehend diskreditierte und unter seinem künstlerischen Abstieg selbst am meisten litt. Und wo Berendts Diktum vom "Gesichtspunkt der Verkäuflichkeit" nicht zu unrecht noch immer nachhallt, da gibt es doch etwas, das weit über die noch so fundierte Analyse, weit freilich auch über die noch so euphorische Hymne von einst und weit über jedes noch so funkelnde Statement der Generalisierung hinausgeht: Das Vermächtnis Wes Montgomerys, in dessen Gesamtheit die letzten "Verve"-Jahre zur quantité négligeable zusammenschnurren – schlicht schöne Musik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIE


als Leader:

  • Wes Montgomery Trio/A Dynamic New Jazz Sound (Riverside/OJC, 1959)

  • Guitar On The Go (Riverside/OJC, 1959-1963)

  • The Incredible Guitar Of Wes Montgomery (Riverside/OJC, 1960)

  • Movin‘ Along (Riverside/OJC, 1960)

  • George Shearing And The Montgomery Bros. (Jazzland/OJC, 1961)

  • So Much Guitar (Riverside/OJC, 1961)

  • Groove Yard (Riverside/OJC, 1961)

  • Full House (Riverside/OJC, 1962, live m. Johnny Griffin)

  • Portrait Of Wes (Riverside/OJC, 1963)

  • Wes Montgomery With Strings: Fusion! (Riverside/OJC, 1963)

  • The Complete Riverside Recordings (Zyx, 1959-1963, 12-CD-Box)

  • California Dreaming (Verve, 1966, m. Don Sebesky Orchestra)

  • Wes Montgomery: The Verve Jazz Sides (1964-1966, 2 CD)

als Sideman:

  • Cannonball Adderley: Cannonball Adderley And The Poll Winners (Riverside/EMI, 1960)

  • Nat Adderley: Work Song (Riverside/OJC, 1960)

  • Milt Jackson: Bags Meets Wes (Riverside/OJC, 1961)

  • Jimmy Smith: Further Adventures Of Jimmy And Wes (Verve, 1966)