Jimmy Giuffre: Der klare 
Klang
der Klarinette

Als Instrumentalist steht er mit dem Tenor- wie dem Bariton-Saxophon auf ebenso vertrautem Fuß wie mittlerweile auch der Flöte und dem Sopran, doch ist es die Klarinette im modernen Jazz der letzten vier Jahrzehnte, die man mit ihm assoziiiert. Als Improvisator wie Komponist ist die permanente Grenzüberschreitung nahezu sein Markenzeichen, als einem der renommiertesten Cool-Jazzer war ihm der Prominenten-Status, den man ihm schon bald untergejubelt hatte, nicht Lorbeer und erst recht keiner zum behäbig-bräsigen Ausruhen, sondern eine Art Treibsatz für Flüge zu den bis dahin unbekannten Milchstraße "Third Stream" und später "Free Jazz", und wenn die Geschichte des Jazz neben so vielem anderen auch die des permanenten Wechsels zwischen ungefiltert-archaischem Gefühl und der Raffinesse des ordnenden Verstandes ist, dann steht sein Name für einen der sinnlichsten Intellektuellen der immer wieder unberechenbaren Musik: Der Versuch, Jimmy Giuffre zu kategorisieren, würde mit Sicherheit jegliche Kategorie so zerspringen lassen wie Glas unter dem Ansturm von Oskar Matzeraths Stimme.

Demonstrationsobjekt für die Volkshochschule

Man mag darüber spotten, und das nicht ganz zu Unrecht. Wo einst Iwan Gontscharow mit seinem Oblomow den "überflüssigen Menschen" als Topos für den lebensuntüchtigen Tagträumer der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts festgeschrieben hatte, da ist John Fordhams Mitte der 90er erschienene kunterbunte Bilder-Fibel "Jazz" zwar kein überflüssiges Buch in toto, schleppt aber doch jede Menge an durchaus entbehrlichem Ballast mit sich herum. Denn während der englische Publizist bereits in den Kapiteln über Stile und Musiker ängstlich darum bemüht ist, nur ja das Volkshochschul-Niveau auch nicht um einen Millimeter zu überschreiten, da fordert das Kapitel über die Instrumente mit seinen an Anatomie-Kurse erinnernden Schaubildern nachgerade zum Kichern heraus, weil die Feststellung beispielsweise, daß man zum Sopran-Saxophon-Spiel mehr Kraft in den Lippen braucht als beim Tenor oder Alt, für ein gelungenes Solo in etwa so wichtig sein dürfte wie die Marke von Schillers Federkiel für die Entstehung der "Glocke". Und da kommt plötzlich auch Jimmy Giuffre zu ganz neuen und besonders für Kenner höchst unerwarteten Ehren und mutiert unversehens zum Ausstellungs-Stück, denn er muß als Demonstrations-Objekt für die Klarinette herhalten.

Zahlen, Daten, Fakten

Immer schön der Reihe nach: Geboren am 26. April 1921 im texanischen Dallas, lernt James Peter Giuffre noch während der Schulzeit Klarinette und Tenor-Saxophon, absolviert, wie er später im Cover-Text seiner Meilenstein-LP "Free Fall" bekennt, seine ersten unbegleiteten Klarinetten-Soli am Lagerfeuer von Pfadfinder-Gruppen und begeistert sich auf Anhieb für den Stil und die – so "Down Beat"-Autor Burt Korall im März 1974 – "innere Logik" Lester Youngs. Nach Reifeprüfung und anschließendem Studium 1942 am North Texas State Teacher’s College sammelt der zunächst recht konventionelle Musiker erste sozusagen semi-professionelle Erfahrungen in einer Army-Band, baut 1946 seinen Magister an der Universität von South Carolina und studiert danach acht Jahre lang Komposition bei Wesley La Violette in Los Angeles. Doch da Theorie allenfalls die halbe Miete ist, schließt sich Giuffre 1947 Jimmy Dorsey an, fügt seinem ersten wichtigen Engagement ein Jahr später mit dem bei Buddy Rich das zweite hinzu und spielt außerdem, nachdem er zuvor eine Zeitlang mit Country-Größe Spade Cooley zusammengearbeitet hat, im "Pontrelli"-Club in Los Angeles in der Band des Trompeters Tony De Carlo, der wohl für immer die unbekannte Größe geblieben wäre, die er war, wäre Giuffre dort nicht mit Herbie Stewart, Zoot Sims und Stan Getz mit der Keimzelle dessen zusammengetroffen, was kurz darauf unter der Federführung Giuffres und mit seiner gleichnamigen Komposition in der Woody-Herman-Band als "Four Brothers"-Saxophon-Klang Legende werden soll. Neben dem reinen Spiel freilich bereits damals gleichermaßen interessiert an Komposition und Arrangement, bleibt Giuffre nicht nur knapp zwei Jahre in der "Second Herd" Hermans, sondern schreibt nebenher bereits Suiten und Orchester-Stücke und hat seine nächste richtungsweisende Begegnung, als er 1952 als Hausmusiker im renommierten "Lighthouse"-Club im kalifornischen Hermosa Beach mit dem Trompeter Shorty Rogers zusammentrifft, dessen Band neben dem Mulligan-Baker-Quartett stellvertretend für den West-Coast-Sound schlechthin steht und der sich Giuffre von 1953 bis Anfang 1956 anschließt.

Nebenher jedoch zieht eine sozusagen verwandte Spielweise die Aufmerksamkeit des unruhig-kreativen Kopfes auf sich – es ist der sogenannte "Third Stream", der Mitte der 50er in Mode kommende Versuch, die Sprachen der notierten klassischen Musik und des Jazz irgendwie miteinander kompatibel zu machen, der den Cool-Klassiker Giuffre das erste von später noch einigen weiteren Malen aus der Bahn der Konvention ausbrechen und Mittelpunkt so mancher Diskussion werden läßt. Denn zwar ist bereits die Gründung seines ersten eigenen Trios 1956 mit dem Gitarristen Jim Hall und dem Bassisten Ralph Pena, den 1958 für gut ein Jahr der Posaunist (!) Bob Brookmeyer ablöst, schon ein Ereignis, doch ist es vor allem seine Langrille "Piece For Clarinet And String Orchestra/Mobiles", die 1959 breite Aufmerksamkeit auf sich und den pragmatischen Theoretiker lenkt. Denn seit 1957 zugleich auch Dozent an der School Of Jazz in Lenox, schreibt Giuffre nebenher jede Menge Arrangements, von denen 1959 die für eine ganze LP von Sonny Stitt bereits im Titel mit "Sonny Stitt Plays Jimmy Giuffre Arrangements" ausdrücklich ausgewiesen werden, ebenso wie für das seelenverwandte "Modern Jazz Quartet", mit dem zusammen er bereits 1956 eine ganze LP eingespielt hatte, sowie unter anderem für Gunter Schuller und das "Orchestra USA" des Piano-Intellektuellen John Lewis.

Daneben freilich ist der Allrounder auch weiterhin mit seinem Trio aktiv, trifft sich für eine vielbeachtete LP mit Lee Konitz mit einem weiteren Aushängeschild des Cool, hängt zwischenzeitlich das Saxophon vorübergehend an den Nagel, um sich ganz der Klarinette zu widmen, formiert 1960 mit dem Pianisten Paul Bley und dem Bassisten Steve Swallow eine neue Dreier-Gruppe und vollzieht mit ihr den nächsten Quantensprung, als er sich zwar unbeeinflußt von ihm, aber doch parallel zum Aufkommen des "Free Jazz" ebenfalls der Abstraktion zuwendet und mit den Platten "Fusion", "Thesis" (deren Wiederveröffentlichung als Doppelpack Mitte der 90er prompt mit dem "Deutschen Schallplattenpreis" ausgezeichnet wurde) und vor allem "Free Fall" die Jazz-Welt gewaltigen Hammerschlägen aussetzt.

Vielseitig von Hause aus, fährt Giuffre von der Mitte der 60er an verstärkt zweigleisig, nimmt seine private wie öffentliche Lehrtätigkeit wieder auf und arbeitet 1967 erneut auch mit Bob Brookmeyer zusammen, mit dem er in seinem Quintett noch einmal an die atemberaubenden Cool-Duette von rund einem Jahrzehnt zuvor im renommierten "Village Vanguard" erinnert. Ende der 60er und nach bald 15 Jahren grenzensprengender Laborarbeit findet Giuffre zu eher konventioneller Spielweise zurück, nimmt nicht nur das Tenor-Saxophon wieder auf, sondern auch noch Flöte und Sopran dazu, widmet sich Anfang der 70er vorübergehend auch orientalischen, fernöstlichen und afrikanischen Klängen, kann 1974 für seine Platte "Music For People, Birds, Butterflies & Mosquitos" in der "Down Beat"-Wertung das höchste Prädikat von fünf Sternen einheimsen und untermauert unter anderem mit seinem Buch "Jazz-Phrasierung und Interpretation" einmal mehr seinen Ruf als auch brillanter Analytiker. Nach weiteren Ausflügen auf artverwandte Gebiete, die ihn beispielsweise auch Arrangements für "Blood, Sweat & Tears" sowie deren Sänger David Clayton-Thomas schreiben läßt, ist Giuffre heute mit der gereiften Altersweisheit des lebenslangen Experimentators nach wie vor mit Konzerten wie Tourneen präsent, und während ihm der "Penguin Guide To Jazz On CD" bescheinigt: "Indem er seinen Triumphzug von 30 Jahren zuvor wiederholte, sieht sich Giuffre zumindest in Europa heute als ‚elder statesman‘ anerkannt", jubelte die "Berliner Morgenpost" anläßlich eines Auftritts der erneuten Zusammenarbeit mit Steve Swallow am 25. Mai 1993 im Berliner Club "Quasimodo": "Der unverwechselbare Personal-Stil steht binnen kurzer Zeit im Raum, das Markenzeichen der –zigfachen Minimal-Variation einer einmal gefundenen Figur bricht sich immer wieder Bahn, und als Giuffre und Swallow zu einem engverzahnten Duo-Ausflug aufbrechen, scheint für eine Viertelstunde die Zeit wirklich stehengeblieben zu sein".

Ungekünstelte Einfachheit und glimmendes Gefühl

Wenn es einen Musiker gibt, der zwar zunächst aus Kategorien – in diesem speziellen Fall später Swing und klassischer Cool – herkam, ziemlich bald jedoch schon alle gängigen und wohlfeilen Klassifizierungen und Genre-Zuweisungen hinter sich ließ, so war und ist es der große Schweiger aus Texas, der es zudem ein Leben lang vorzog, sich eher in seiner Musik auszudrücken als in weitschweifig-nichtssagenden Interviews oder lose in die Luft geworfenen Floskeln. Und so sahen sich auch Kritiker und Fach-Publizisten immer wieder gezwungen, gleich ganze Schränke aufzureißen, anstatt – wie gewohnt – einfach die eine oder andere Schublade: "Giuffre klingt oft, als sei er mit vollem Bewußtsein in seiner Welt verschlossen, aber zugleich macht er Ideen zugänglich, für die es bis dahin keine vorfabrizierten Sprachregelungen und keine Kritiker-Rhetorik gab, und seine Platten sind essentielle Dokumente der Entwicklung eines umfassenden Jazz-Idioms, das sich weigerte, den Bop als einzige und ausschließliche Zuflucht anzusehen", umreißt treffend der "Penguin Guide To Jazz On CD" die relative Sprachlosigkeit, mit der zumindest in den späten 50ern und bis Mitte der 60er so mancher Schreiber dem Phänomen Giuffre gegenüberstand. "Jimmy ist ein Innovator, und es sind die ungekünstelte Einfachheit und das glimmende Gefühl, die ihm seine Ausnahme-Stellung eingetragen haben. Durch den höchst individuellen und kritischen Umgang mit dem Vokabular der modernen Musik ist es ihm gelungen, gleich eine ganze Welt von psychologischer Balance, Proportion und tiefstverwurzelter Gelassenheit auszudrücken", umriß denn auch beispielsweise schon 1956 Kritiker Gary Kramer den damaligen Status des ruhigen Unruhestifters, Kollege Martin Williams attestierte 1962 im "Stereo Guide": "Der neue Giuffre-Stil verkörpert die impressionistische Launenhaftigkeit, die Textur und das kompositorische Raffinement des früheren Giuffre-Trios, aber sie ist gleichermaßen von neuer Freiheit und Unmittelbarkeit. Heute ist die Verbindungslinie zwischen dem studierten Komponisten Giuffre und dem Spieler, dem kraftvolle, spontane und kompromißlose Statements am Herzen liegen, kürzer als je zuvor", und Burt Korall schließlich hatte sich bereits im Dezember 1961 in "Down Beat" auf die zu der Zeit vermutlich prägnanteste Formel verständigt: "Der Gruppen-Chef Giuffre, der Instrumentalist und der Komponist sind eine untrennbare Einheit, und seine Musik ist nichts für Ohren, die nach gemächlich-behäbiger Schlichtheit suchen", beschied der durch mehrere Publikationen ausgewiesene Giuffre-Experte.

Vom falschen Schein simplizistischer Oberflächen

Jimmy Giuffre und die Stimme der Kritik – war es einst noch vergleichsweise kompliziert, den Mann, der immer genau dann, wenn man glaubte, ihn in den Griff bekommen zu haben, gerade auf der Schwelle zu neuen Räumen stand, irgendwo und irgendwie unterzubringen, da hat Giuffre inzwischen und auch nicht erst seit gestern seinen allseits anerkannt festen Platz in der Jazz-Geschichte gefunden, und die rückschauenden Wertungen und Würdigungen der Jetzt-Zeit sind so plakativ wie kompakt: "Einfühlsame, kommunikative Gruppen-Improvisationen über Giuffres anmutig folkloristische Themen", bescheingt Fordham allen sonstigen Simplifikationen zum Trotz seinem LP-Klassiker "The Jimmy Giuffre Three" von 1956, Joachim Ernst Berendt urteilt im "Jazz-Buch" kurz und bündig: "In den 60er und 70er Jahren trat Giuffre als ein sensibler Musiker eines kühl und reserviert konzipierten Free Jazz hervor", und der "New Grove Dictionary Of Jazz" schließlich konstatiert: "Giuffre hatte in den späten 50ern und noch einmal in den frühen 60ern eine Schlüsselstellung im Avantgarde-Jazz. Er entwickelte einen dunklen, warmen Ton, der mit seiner relaxten Phrasierung bestens übereinstimmte, aber die simplizistische Oberfläche täuschte über die Subtilität seiner Quellen hinweg".

Zurückhaltende Diktion contra Männlichkeitswahn

Als Miles Davis, damals noch alles andere als der Super-Star, als den wir heute gewohnt sind, ihn vor Augen zu haben, sondern noch nichts als ein aufstrebender Musiker unter jeder Menge anderer – als Miles Davis 1949 mit seinem zwar nur kurzfristig bestehenden, aber lange nachwirkenden "Capitol-Orchestra" die LP "Birth Of The Cool" einspielte, da konnte er ebensowenig wie rund ein Jahrzehnt später Ornette Coleman mit seinem Album "Free Jazz" ahnen, daß er damit zugleich einem ganzen neuen Stil auch schon den Namen gegeben hatte, einem Stil und zugleich einem musikalisch-mentalen Klima, das für die nächste Dekade den Weg vorgab und das Giuffre nicht formte oder gar prägte, sondern im Gegenteil seiner natürlichen inneren Ausrichtung entgegenkam. "Im bewußten Gegensatz zur falsch verstandenen Aggressivität und dem Männlichkeitswahn des Jazz waren Guiffres Trios von zurückhaltender Diktion", stellte denn auch Burt Korall schon 1961 expressis verbis in "Down Beat" fest. Doch darüber hinaus war Giuffre zwar mitnichten Front-Kämpfer und Flügel-Stürmer der zwischen relaxed und resigniert changierenden Attitüde, aber doch auch mehr als nur einer der zahlreichen Aufspringer auf den damals mit Volldampf dahinrauschenden Zug – wo in aller Regel beim Begriff "Cool-Jazz" immer wieder erst einmal Lennie Tristano und Lee Konitz, Gerry Mulligan und Chet Baker und allenfalls noch Dave Brubeck, Paul Desmond und das "Modern Jazz Quartet" ins Feld geführt werden, da rückt Berendt im "Jazz-Buch" die Dimensionen gerade, enttarnt – freilich eher unbeabsichtigt und en passant – zugleich auch noch das alte Ressentiment von der immer wieder beschworenen Glitzer-Kälte des Cool und weist Giuffre als einen der zumindest peripheren Gründer-Väter aus: "Der neue Klang wurde durch Giuffres Stück ‚Four Brothers‘ berühmt. In seiner Wärme und Schmiegsamkeit symbolisierte er das Klangideal des kühlen Jazz. Shorty Rogers, Shelly Manne und Giuffre wurden die maßgebenden Musiker an der Westküste", stellt der Nestor der deutschen Jazz-Publizistik den leichtlippigen Formulierer an den ihm zustehenden Platz, und John Fordham resümiert so kurz wie treffend: "Wenn der Cool-Jazz auch entspannt war, so war er doch nicht ausdruckslos, und Jimmy Giuffres Reflexionen gaben den Ton der Cool-Klarinette an".

Scharfkantig in die Altersweisheit

Daß Jazz nicht zuletzt durch die freie und spontane Improvisation mehr noch als manche andere Musik und manche andere Kunstform überhaupt immer zugleich auch ein di- rekter und unmittelbarerer Spiegel der Persönlichkeit ist, ist so banal wie unumstößlich, und wer das Glück hatte, Jimmy Giuffre beim bereits erwähnten Auftritt 1993 im Berliner "Quasimodo" zu erleben, wurde live und hautnah Zeuge dieser Kongruenz von Mensch und Musik: Kein schillernder Star und erst recht kein Super-Star, kein affektierter Allüriker und kein schwärmerischer Schaumschläger, der mit dem Speck der Wohlgefälligkeit nach den Mäusen der Publikumsgunst zielt, sondern ein ebenso bescheidener wie bestimmter Mann ohne Schnörkel und Umschweife betrat da die Bühne – Qualitäten und Tugenden, die freilich nicht erst das Ergebnis von Altersreife sind, sondern ureigenste Natur: "Sich natürlich und offen auszudrücken und Gedanken – in welcher Form auch immer sie sich manifestieren mögen – freizusetzen, ist immer das Ziel des fortwährend suchenden Gentleman mit der sanften Diktion gewesen", hatte bereits im Dezember 1961 Burt Korall in einem großen "Down Beat"-Artikel unter der sicherlich bewußt Proust assoziierenden Überschrift "Auf der Suche nach Freiheit" betont, "die Fotos bei den Aufnahme-Sessions von ‚Fusion‘ und ‚Thesis‘ sind oft kommentiert worden, denn in ihrem Spiel von Licht und Schatten und ihrem prononciert fokussierten Schwarz-Weiß sagen sie eine Menge über die Musik", wirft der "Penguin Guide To Jazz On CD" von der Seite her ein Streiflicht auf die Persönlichkeit des Geradeaus-Formulierers, und wenn es denn ansatzweise einen Makel geben sollte, so relativiert Arrigo Polillo auch ihn: "Jimmy Giuffre war sehr ehrgeizig. Er schrieb anspruchsvolle Partituren für jeden, der sie wünschte", macht der italienische Star-Kritiker in seinem Buch "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik" aus der vielleicht einzigen Not flugs ebenfalls eine Tugend.

Kanonenfutter für den Dogmen-Krieg

Wie die jeder guten Religion, die auf sich hält, so ist auch die Geschichte des Jazz unter anderem auch eine von permanenter Dogmen-Dialektik und daraus resultierender Glaubens-Kriege, und hatte beispielsweise Anfang der 50er Jahre der renommierte französische Kritiker Hugues Panassié in einem Buch mit dem bewußt provokanten Titel "Die Geschichte des echten Jazz" mit dem Aufkommen des Bebop auf nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Exitus der unbotmäßigen Musik diagnostiziert, so wurde der nächste Richtungs-Streit ein paar Jahre später mit zum Teil schon inquisitorischer Erbitterung geführt: "To Jazz or not to jazz", war die Frage, als mit dem Siegeszug des Cool die Sophistication Verstand-gesteuerter Formen-Filter die originär schwitzende und stampfende Ekstase zumindest eine Zeitlang in den Hintergrund drängte. Und ähnlich dem "Aber der hat ja gar nichts an!" im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, so wimmelte die Szene plötzlich von anerkannten wie selbsternannten Tugend-Wächtern, die sich im gemeinsamen Aufschrei "Aber die swingen ja gar nicht!" einten – ein Verdikt, das – so pauschal wie unzutreffend – logischerweise auch Jimmy Giuffre als einen der profiliertesten wie eigenwilligsten Musiker der neuen Spielart traf. Doch wo es eine Zeitlang fast schon Mode war, über den Cool im Allgemeinen und Giuffre im Besonderen herzufallen, da trennte sich auch da schnell die schäumende Spreu vom differenzierenden Weizen: "Einige von Giuffres Stücken schienen wenig von Jazz-Charakter im konventionellen Sinn zu haben. Die Arbeit des Trios suggeriert zeitgenössische Kammermusik, doch können eigentlich nur Jazz-Musiker mit ihrer zutiefst verwurzelten Spontaneität in dieser Art improvisieren", hatte beispielsweise Martin Williams bereits im Januar 1962 im "Stereo Guide" die "Sowohl-als-auch"-Position ausgeleuchtet. Doch es blieb einmal mehr Joachim Ernst Berendt vorbehalten, die Balance von Anklage und Verteidigung in einer Art Schluß-Plädoyer wiederherzustellen: "In der Musik der West Coast spielten viele Elemente der europäischen, akademischen Musik-Tradition eine Rolle. Ursprüngliche und vitale Jazzmäßigkeit traten oft in den Hintergrund", moniert in seinem "Jazz-Buch" zwar auch der deutsche "Jazz-Papst" im Ruhestand, um freilich ein paar Absätze später zu relativieren: "Es gibt im modernen Jazz Aufnahmen – etwa von Jimmy Giuffre -, die sich weitgehend der Kammermusik moderner sinfonischer Komponisten genähert haben, die aber so jazzmäßig phrasiert sind, daß sie als Jazz empfunden werden – selbst dort, wo der durchgehende Beat aufhört".

Drei Stimmen und die Nationalhymne des Cool

Ein Tenorist ist ein Klarinettist ist ein Baritonist – es war lange, bevor sich nach der englischen Bezeichnung für die Mundstück-Blättchen der Begriff "Reeds" als Sammel-Bezeichnung für Klappen-Blasinstrumente jeglicher Art durchsetzte, daß Jimmy Giuffre mit seinen drei verschiedenen Stimmen ein munteres "Bäumchen, Bäumchen, wechsle dich" spielte, und besonders "The Train And The River", das im Gefolge des legendären Newport-Films "Jazz an einem Sommerabend" von 1959 unversehens zur heimlichen National-Hymne des Cool aufstieg, geriet ihm dabei zur – freilich unbeabsichtigten – Demonstration der unterschiedlichen Klang-Farben, indem er seine kurzen Improvisations-Pausen während der Soli Jim Halls zum fliegenden Wechsel nutzte. "Jimmy Giuffres Prez-(Lester Young)inspirierte Klänge auf der Klarinette sind wundervoll, seine Linien auf dem Saxophon von zwingender Logik", pries denn auch schon Ende der 50er "Atlantic"-Gründer und Chef-Produzent Nesuhi Ertegun seinen zeitweiligen Vertrags-Künstler, der als polyglotter Linguist auch da mit am Anfang gleich einer ganzen Entwicklung stand – von Sonny Stitt, der lange zwischen Tenor und Alt schwankte, ehe er sich endgültig für das höhere Horn entschied, über John Coltrane, der bewußt zwischen Tenor und Sopran hin- und hersprang und besonders auf seinem Klassiker "Plays The Blues" eindrucksvoll die verschiedenen Möglichkeiten beider auslotete, und Eric Dolphy, der als Altist, Baß-Klarinettist und Flötist gleich drei Persönlichkeiten in sich vereinte, bis hin zu Charlie Mariano, der noch im filigranen Näseln zwischen den Klang-Verwandten Oboe und Sopran differenziert: Sie alle wären zwar auch ohne Giuffre nicht undenkbar. Aber doch wird man kaum irren, wenn man vermutet, daß es nicht zuletzt auch die eine oder andere Giuffre-Platte war, die sie – direkt oder indirekt – bei ihrer Suche nach neuer Klang-Vielfalt inspirierte.

Doch es war schließlich die Klarinette, die sich als zunächst nur ein Drittel der drei Seelen in der Brust des Multi-Instrumentalisten nach und nach nicht nur als die stärkste Kraft herauskristallisierte, sondern im Laufe der Zeit seinen Namen zum Synonym der Klarinette im modernen Jazz überhaupt werden ließ und direkte Schüler wie Perry Robinson ebenso beeinflußte wie so vergleichsweise entlegene Epigonen wie beispielsweise den Ruhrpott-Neutöner Theo Jörgensmann. "Der Instrumentalist Giuffre ist nicht mehr der, der er einstmals war: Zum einen hat er bis auf die Klarinette alle anderen Blasinstrumente an den Nagel gehängt, zum anderen hat sich auch sein Klarinetten-Spiel von der früheren Vagheit und Nebulosität der Beschränkung auf mittlere und untere Register entfernt und zielt nun in Richtung zunehmenden Gedankenflusses, so daß auch seine Ideen nun mit klarerem Profil definiert werden", hatte schon 1961 Burt Korall in "Down Beat" konstatiert, und Berendt analysiert im "Jazz-Buch": "Nach der Kälte Buddy DeFrancos wirkte die ‚Wärme‘ Jimmy Giuffres umso stärker. Die dunkle Wärme seines Spiels schien endlich das zu verkörpern, was man so lange vermißt hatte: eine moderne Klarinettenspielweise, die in etwa dem ‚Brothers Sound‘ der Tenor-Saxophonisten entspricht". Und wo Berendt schon 1959 in einer frühen Ausgabe seines immer wieder aktualisierten Standard-Werks festgestellt hatte: "Wenn man will, dann kann man selbst in dem Bariton-Saxophonisten Jimmy Giuffre Spuren des Klarinettisten entdecken", da dürfte es andererseits auch da keine Laune des Zufalls, sondern ebenfalls bewußtes Kalkül gewesen sein, daß Giuffre bei seinem vielzitierten und auf Platte für alle Zeiten verewigten Treffen mit Lee Konitz im Mai 1959 das hohe Alt-Saxophon des – so die FAZ noch 1996 – "Cool-Jazz-Pioniers" mit seinem tiefen Bariton ebenso konfrontierte wie kontrastierte.

Mit dem "Third Stream" gegen den Strom

"Es war Gunter Schuller, der irgendwann 1957 den Begriff ‚Third Stream‘ in die Welt setzte, um die plötzlich in Mode gekommenen Versuche zu benennen, Aspekte der klassischen Musik als erstem und des Jazz als zweitem Strom in einer klaren, kohärenten und ausgeklügelten Form zu integrieren, und während heute mehr Musiker als je zuvor unbewußt genau dieses Feld bestellen, findet sich der Name ‚Third Stream‘ nirgends mehr", konstatiert ein ansonsten nicht näher in Erscheinung getretener Art Lange dennoch zutreffend im Begleit-Text zur Wiederveröffentlichung von Giuffres 1959 in Deutschland mit dem Orchester des Südwestfunks aufgenommenen LP "Piece For Clarinet And String Orchestra/Mobiles" und schreibt damit zugleich Umfeld wie Spät-Folgen der Feldversuche auch des notorischen Zaun-Zertrümmerers fest. Denn in der Tat wären in der Mitte der 70er, als der "Third Stream" so etwas wie einen zweiten Frühling erlebte, Gary Burtons wunderschöne Aufnahmen mit dem NDR-Kammerorchester, Mike Gibbs‘ Fusionen von Swing und Kontrapunkt oder auch Eberhard Webers "Colours Of Chloe" etwa vermutlich kaum auf so offene Ohren gestoßen, hätten nicht rund zwei Jahrzehnte zuvor Schuller, Lewis und Konsorten und eben auch Jimmy Giuffre mit nur wenigen Platten zwar, aber doch beeindruckend da gesät, wo andere später erneut ernteten.

Und es war die Verquickung von acht Jahren Kompositions-Studium, regem Kopf und experimentierfreudiger Forscher-Unrast, die die Antwort des Cool auf Benny Goodman nahezu prädestinierte, auch hier nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern ihr bisweilen sogar noch eine Nasenlänge voraus zu sein – im Suchen wie im Finden: "Man kann schwer sagen, daß meine Kompositionen klassisch sind. Sicherlich sind sie es, doch dann gibt es darin auch wieder Dinge, mit denen sich klassische Musiker selten beschäftigt haben. Ich glaube, es ist Jazz, aber dann finden sich auch wieder Stellen, wo es Impressionismus ist", hatte Giuffre beispielsweise auf dem "Mobiles"-Cover erklärt, und fast liest sich wie die Rezension einer Giuffre-Platte, was Martin Williams einst als generelle Summe unter dem Strich gezogen hatte: "Die Allianz zwischen Jazz und klassischer Musik hat in der letzten Zeit Früchte getragen – zumindest Früchte auf der einen Seite, und der Grundgedanke besteht in der Kombination geschriebener klassischer Formen mit improvisiertem Jazz", hatte der US-Kritiker im "Down Beat"-Jahrbuch von 1961 resümiert, "die Stücke gleichen mehr oder weniger Konzerten, in denen die Musiker des klassischen Orchesters mit den improvisierenden Jazz-Front-Männern diskutieren, sich streiten oder auch übereinstimmen. Es geht nicht darum, die Klassizisten swingen zu lassen oder den Jazzern den Swing zu verbieten. Die Idiome kämpfen miteinander, sind sich darin einig, sich nicht einig zu sein, und jedes geht seinen eigenen Weg gemäß seinen eigenen Standards".

Sprung über Zäune als Konzept

"Giuffre lieferte den ersten Nachweis gewisser revolutionärer Theorien, als er eine Platte unter dem Titel ‚Tangents In Jazz‘ für Capitol einspielen konnte, die viel von sich reden machte. Giuffre hatte sich vorgenommen, anhand dieser Aufnahme zu beweisen, daß der Jazz überhaupt keinen ausdrücklichen Beat braucht. Im Gegenteil, er glaubte, daß das ständige rhythmische Pulsieren, wie es durch Schlagzeug und Baß hervorgerufen wird, störend für die freie Improvisation und hinderlich für die volle Entfaltung des solistischen Tons sei", analysiert der italienische Kritiker Arrigo Polillo in seinem Standardwerk "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik", doch daß ausgerechnet eins der ausgewiesenen Aushängeschilder des Cool zu einem der Wegbereiter und Vordenker des Free-Jazz werden sollte, mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, ist auf den zweiten jedoch umso zwingender. Denn während Ornette Coleman und John Coltrane als die beiden Exponenten erweiterter harmonischer wie rhythmischer Konzepte mit ihrem mit "Ansatz" nur unzulänglich übersetzten "Approach" eher von der emotionalen Seite her neue Äcker bestellten, da waren die 50er und frühen 60er Jahre mit Musikern wie Dave Brubeck, Lennie Tristano, eben Jimmy Giuffre und – als einzigem Farbigen – John Lewis die Ära, in der erstmals Akademiker der Musik ihre Marschrichtung mitbestimmten. Und wo der schwarze Aufschrei zwar deutlicher vernehmbar und damit auch spektakulärer war als die ausgeklügelten und an Namen wie Schönberg, Boulez und Darius Milhaud orientierten Kopfattacken ihrer geistigen Antipoden, da waren es doch die – wenn man es denn so simplifiziert ausdrücken will – "weißen" Qualitäten von Ordnungs-Sinn und Konzept-Denken, die nicht minder dazu beitrugen, die stilistischen Neu-Erwerbungen in verbindliche Formen zu gießen. Wobei es nicht zuletzt der notorische Grenzüberschreiter Giuffre war, der – teils in vermittels seiner wenigen Interviews gesprochener, mehr jedoch noch in einfach gespielter Form – das theoretische Fundament mit definierte. "Giuffre war tief involviert in freier oder, wie er es zu nennen vorzog, abstrakter Musik", attestierte 1968 Martin Williams in "Down Beat", "Musiker wie Lennie Tristano, George Russell, Jimmy Giuffre und Charles Mingus waren die Vorbereiter jener plötzlichen und explosiven harmonischen Freiheit, die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre den Jazz aus den Fugen platzen ließ", reiht Berendt im "Jazz-Buch" den – so der "Penguin Guide To Jazz On CD" – "intuitivsten Improvisator seiner Generation" gleichberechtigt ein in die Riege der bahnbrechenden Erneuerer zu Beginn eines Jahrzehnts der permanenten Umbrüche, und Giuffre selbst hatte bereits im Dezember 1961 und ebenfalls in "Down Beat" eher metaphorisch zu Protokoll gegeben: "Ich mußte einfach über Zäune springen, um auf dem Weideland dahinter grasen zu können".

Antagonismen im freien Fall

In der Discographie so manches großen Musikers finden sich bestimmte Schlüssel-Platten, die seine gesamte Entwicklung wie unter dem Mikroskop ausleuchten und auf den Brennpunkt verdichten: Benny Goodmans ursprünglich illegal von einem Amateur mitgeschnittenes "Carnegie Hall Concert" vom 16. Januar 1938 etwa, Miles Davis‘ "Kind Of Blue" ebenso wie rund ein Jahrzehnt später sein epochales Doppel-Album "Bitches Brew", Coltranes "My Favorite Things" ebenso wie "A Love Supreme", Charles Mingus‘ "Ah-Um" oder auch Thelonious Monks "Misterioso", und Jimmy Giuffres 1963 eingespieltes Album "Free Fall" war wirklich so etwas wie ein freier Fall ohne Netz und doppelten Boden: Selten zuvor und auch danach nur selten wieder ist eine derart nur schwer zugängliche Musik zu Rille gebracht worden, und auch nur in Ausnahmefällen hat ein Stück Vinyl alle Zeitläufte derart unbeschadet überstanden wie die Magna Charta des freien Jazz des Triumvirats Jimmy Giuffre, Paul Bley und Steve Swallow, mit der sich der – so Burt Korall im März 1974 in "Down Beat" – "Erforscher von Erfahrungen" bereits Anfang der 60er experimentelle Freiheiten nahm, von denen so mancher selbst in der Mitte des unruhigen Jahrzehnts noch kaum zu träumen gewagt hätte, und mit der er handstreichartig die Grenzen der Tonalität gleich um Meilen verschob. Und so, wie beispielsweise Bachs Sonaten und Partiten für Solo-Violine, Beethovens späte Klavier-Sonaten oder auch und erst recht Stockhausens, Kagels und Cages strenge Formalismen unvoreingenommene Hörer zunächst einmal vor den Kopf stoßen, vorgeprägte Ohren hingegen immer wieder neu in helles Entzücken versetzen, so ist auch "Free Fall" trotz oder vielleicht auch gerade ob seiner verstörenden Radikalität fast so etwas wie eine Geheim-Chiffre einer verschworenen Gemeinde: "Jimmy Giuffre hat mehr deutlich voneinander abgesetzte Phasen durchlaufen als die meisten anderen Musiker, bis er zum aller Beeinträchtigungen ledigen Einklang und zur brütenden Ausforschung seiner einzigartigen Version von Free-Jazz gelangte. Die Bindeglieder dieser Evolution waren seine Flucht aus den ‚vertikalen Gefängnissen‘, als die er einmal den Bebop bezeichnet hatte", schwärmte beispielsweise bereits 1968 Kritiker Max Harrsion in seinem Buch "Jazz On Record" über Giuffres Klassiker, und der "Penguin Guide To Jazz On CD" bescheinigt: "‚Free Fall‘ ist verklausuliert und heimtückisch, und die Mixtur von Giuffres Soli enthält einige der durchdringendsten und antagonistischsten Statements, die er je aufgenommen hat".

Was Wunder freilich auch bei einer Platte, die bereits im Begleit-Text im Gegensatz zur fast schon zum Minimalismus verschlankten Musik einen Blick auf die opulente Fülle ihrer Quellen freigegeben hatte: "Den unabdingbaren Zwang, neue Reiche zu betreten, einen Blick auf andere Dimensionen zu erhaschen und an das Absolute zu rühren, als gegebenen Ausgangspunkt vorausgesetzt", hatte Guiffre selbst die generelle Marschrichtung rekapituliert und zugleich die konkreten Wegmarken assoziativ aneinandergereiht: "die Visionen, die Gedanken an Dinge wie Gravitation, Monk, Elektrizität, Zeit, Raum, Mikrokosmos, Abschiede, Chemie, Kraft, Götter, weißglühende Hitze, Asteroide, Liebe, Ewigkeit, Einstein, Rollins, Evans, Herzschlag, Schmerz, Delius, Obertöne, Prähistorie, La Violette, Frauen, Leben, Leere, Alban Berg und Bird und das Universum als gegebenen Ausgangspunkt vorausgesetzt, kommen wir zum Jetzt und zu dieser Platte".

Harte Gedankenarbeit unter dem Mikroskop

Daß Gedanken Sprengkraft haben – "sein Kopf ist eine Waffenkammer", schrieb "Zeit"-Filmkritiker Andreas Kilb 1992 über Robert de Niros diabolische Bestie in Martin Scorseses "Kap der Angst" – daß Gedanken Sprengkraft haben, ist ein Wissen, das so leicht zu bewahren nicht ist in einer Zeit, in der unter dem Tarnnamen "Kommunikationsgesellschaft" der Geschwätzigkeit immer weiter Tür und Tor geöffnet werden, und auch in diesem Kontext können wir neidisch werden auf jene 60er Jahre, in denen noch Kopfarbeit die Welt veränderte und die Jimmy Giuffres die Jazz-Welt – zumindest partiell – aus den Angeln hob. Denn auch das war und ist der unauffällig-unaufdringliche Transformator, der freilich das, was dann schließlich dabei herauskam, so vermutlich nie beabsichtigt hatte: einer der warmblütigsten unter den Intellektuellen der unbotmäßigen Musik und zugleich einer der strengsten Denker der großen Gefühle, der sicherlich nicht aus Wort-Verlegenheit heraus in Interviews wie Kommentaren zu seinen Platten gern den Begriff der Logik ins Feld führt.

Und wo es in der Natur der Sache liegt, daß Liebhaber wie Fachleute einer derart emotionalen Musik, wie es Jazz nun einmal ist, vorzugsweise dann ins Schwärmen geraten, wenn einer wieder einmal sein innerstes Gefühls-Leben nach außen gekehrt hat, da haben Elogen auf die geistige Dimension fast schon etwas vom In-Gold-Aufwiegen in Märchen oder auch Fernseh-Shows an sich: "Was diejenigen Weißen anbetrifft, von denen man Ende der 50er, Anfang der 60er vor allem sprach, so waren sie in unterschiedlichem Maß am Prozeß der Intellektualisierung interessiert, an der Verfeinerung der Formen, die ihren Höhepunkt in den Jahren des Cool-Jazz erlebt hatte", attestiert beispielsweise Polillo mit allerdings offensichtlich verhaltenem Unmut. "Beeindruckend ist Giuffres Fähigkeit, eine Phrase sozusagen mikroskopisch von allen Seiten auszuleuchten, und die in Europa mitgeschnittenen Platten sind Beleg für die harte Gedankenarbeit, die sie begleitet hat", diagnostiziert der "Penguin Guide To Jazz On CD", und Burt Korall hatte bereits im März 1974 eine der vermutlich prägnantesten Formeln zu Papier gebracht: "Giuffres Musik ist gedankenschwer, individuell und selten naheliegend", beschied der Giuffre-Spezialist in "Down Beat" so kompakt wie kompetent.

Begegnungen als funkelnde Solitäre

Reden wir von den musikalischen Begegnungen des – so Martin Williams –"großen Abstraktionisten": Daß sie, im Gegensatz zu manchem anderen, bei einem so eigenwilligen Musiker an den Zehen eines Fußes abzuzählen waren, daß ein so individueller Stilist nicht mit Hinz und Kunz drauflosjammte, sondern der Kreis derer, mit denen er ins Studio ging, handverlesen war, versteht sich eigentlich von selbst. Doch wo Qualität allemale vor Quantität geht und wo es beispielsweise mit Sicherheit keine Laune des Impresarios war, sondern Konzept, daß 1958 Gerry Mulligan und Jimmy Giuffre mit ihren Gruppen im Doppel-Pack auf Europa-Tournee gingen, da gerieten Giuffre die wenigen Rencontres mit durch die Bank ohnehin Musikern mit gleicher oder zumindest ähnlicher Wellenlänge stets zugleich auch zu so etwas wie kleinen Solitären im schon in den 50ern und frühen 60ern regen Treiben der Einspielungen und Sessions, die neben einem ganzen Sack voll noch heute verbindlicher Highlights und so manchem Klassiker mit Ewigkeits-Anspruch eingeräumtermaßen auch jede Menge an mittlerweile zu Recht vergessener Dutzend-Ware als Output zeitigten. Und so steht jede einzelne seiner "Jimmy Giuffre Meets..."-LPs gleichzeitig auch für einen bestimmten Teil-Aspekt der Jazz-Geschichte generell – seine Zusammenarbeit mit Shorty Rogers als ultimative Definition dessen, was einst als "West Coast Jazz" die relaxte Wärme Kaliforniens zunächst quer durch die Staaten und kurz darauf gleich um die ganze Welt trug, sein für eine Langrille gemischtes Doppel mit Lee Konitz als Gipfeltreffen des Cool schlechthin und das Album "The Modern Jazz Quartet featuring Jimmy Giuffre" schließlich als so etwas wie die Quintessenz der Gedanken-Architektur im Jazz überhaupt.

Auf der warmen Seite des Cool

Jimmy Giuffre, der Grübler auf der Klarinette, der – aus der diametral entgegengesetzten Richtung kommend – zu ähnlichen Ergebnissen gelangte wie die aus dem Bauch heraus aufbegehrenden Free-Musiker, der introvertiert-reflektierte Tüftler, der lieber dreimal mehr nachdachte als einmal unüberlegt drauflos zu schrammeln, der Instrumentalist, der mit der Wärme seines Spiels die alte und offensichtlich unausrottbare Mär von der Gefühlskälte des Cool schlicht Lügen strafte, der praktizierende Musiker und analysierende Theoretiker in Personal-Union, der Genre-Grenzen bis heute dadurch ad absurdum führt, daß er sie so leichtfüßig überspringt wie einstmals Martin Lauer die auf 110 Meter vor ihm aufgestellten Hürden. Und wenn Kritiker Gary Kramer schon 1956 festgestellt hatte: "Was Jimmy Giuffre zu sagen hatte, das hat er mit der knappen Klarheit und Ernsthaftigkeit, die das Markenzeichen seiner Musik sind, gesagt" – dann hat das bis heute keinen Deut seiner Gültigkeit verloren.

AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIE


als Leader:

  • Tangents In Jazz: Jimmy Giuffre (Affinity, 1955, gestrichen)

  • The Jimmy Giuffre 3 (Atlantic, 1956)

  • Western Suite (Atlantic, 1958, m. Bob Brookmeyer, Jim Hall)

  • Fusion/Thesis (Verve/ECM, 1961)

  • Free Fall (CBS/Sony, 1962)

  • Quiet Song (Improvising Artists, 1975, m. Paul Bley, Bill Connors)

  • Dragonfly (Audio, 1983, in Deutschland nicht lieferbar)

  • Conversations With A Goose (Black Saint, 1993)

 

als Sideman:

  • Shelley Manne: The West Coast Sound, Vol. 1 (Contemporary/OJC, 1953)

  • Shorty Rogers: Wherever The Five Winds Blow (Fresh Sounds, 1956)

  • Modern Jazz Quartet: At The Music Inn, feat. Jimmy Giuffre (Atlantic, 1956)

  • Lee Konitz: Lee Konitz Meets Jimmy Giuffre (Verve, 1959, Doppel-CD, umfaßt die Alben "Lee Konitz With Strings: An Image", "Ralph Burns: Free Forms", "Lee Konitz Meets Jimmy Giuffre" und "Jimmy Giuffre: Piece For Clarinet And String Orchestra/Mobiles")