John Coltrane: Seelensucheauf dem Saxophon |
Als Saxophonist war er beim ersten Ton schon unverkennbar unter 100 anderen Saxophonisten. Mit seinem legendären Quartett etablierte er die fruchtbare Unruhe als Wesensmerkmal des modernen Jazz. Seine Beschäftigung mit orientalischer Religiosität und asiatischem Mystizismus bescherte dem Jazz nicht nur hymnische Gebete von eindringlicher Spiritualität, sondern ließ ihn posthum zum ersten Säulenheiligen der Esoterik werden, und seine sich selbst verzehrende Suche nach immer noch größerer Intensität wies nicht nur dem Free Jazz endgültig seine Richtung, sondern ließ ihn zugleich schließlich körperlich an sich selbst zerbrechen: Wo John Coltranes Entwicklung in der Tat in jenen gigantischen Schritten verlief, von denen mit "Giant Steps" eine seiner bekanntesten Platten sprach, da ist auch mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte nach seinem viel zu frühen Tod sein Einfluß nach wie vor ungebrochen, steht sein Name – wie wohl vielleicht neben ihm nur noch der Miles Davis‘ – als Synonym für den modernen Jazz schlechthin, ohne dessen permanente Grenzüberschreitungen auch vieles, was heute in Rock und Pop Selbstverständlichkeit ist, undenkbar wäre. |
Laienprediger und Ersatzkassen-PhilosophenEr war eine Legende, ist ein Mythos, und daß so einer nicht nur ernsthafte Kenner und Analytiker, sondern auch jede Menge Laienprediger und Ersatzkassen-Philosophen auf den Plan rief und immer noch ruft, liegt auf der Hand. Und so stößt man denn beim langen Marsch durch die Archive neben nüchtern-sachlichen Informationen auch auf jede Menge Unfug: Der englische Jazz-Publizist John Fordham beispielsweise, der in seinem kunterbunten Bilderbuch "Jazz" zwar noch bescheinigt: "Wenn Parker ein Vogel im Fluge war, so ist Coltrane ein Strom, der über die Ufer tritt", versteigt sich jedoch an gleicher Stelle auch zu der Behauptung: "Als Miles Davis 1955 triumphal auf die Szene zurückkehrte, wurde Coltrane zum vulkanischen Gegenpol seiner vielgepriesenen Zurückhaltung". Der 1972 verblichene Berliner "Telegraf" sprach 1962 bei einer Konzert-Kritik beharrlich von "John Colterane", die "Welt" raunte in ihrem Nachruf vom 19. Juli 1967 von "harmonischer Verarmung durch modale Akkordfolgen" ebenso wie und von "bewegtem Passagenwerk von brodelnder Insistenz", die "Berliner Morgenpost" sprach zum gleichen Anlaß von "rabiaten, hämmernden, kalten Explosionen" und ernannte noch 1992 "A Love Supreme" zum "emotionalen Klassiker in der ewigen Hitparade des Jazz", und Berlins größte Boulevard-Zeitung schließlich zieh ihn einst gar der Mittäterschaft an etwas, woran er nachweislich nun wirklich nicht beteiligt war, selbst, wenn man das Jugend-Strafrecht zur Anwendung brächte: "Der Musiker entwickelte zusammen mit den Stars Lester Young, Charlie Parker und John Coltrane den Bebop", hieß es im Nachruf der "BZ" auf Dexter Gordon am 27. April 1990. Versuchen wir also, die Spreu vom Weizen zu trennen, soweit das – noch dazu mit dem zeitlichen Abstand – überhaupt noch möglich ist. Zahlen, Daten, FaktenDie nackten Fakten: Geboren am 23. September 1926 in Hamlet im US-Bundesstaat North Carolina als Sohn eines mittelständischen Schneiders, lernt John Coltrane nach dem Umzug der Familie nach Philadelphia auf der High School zunächst Althorn, Klarinette und Saxophon, bevor er seine musikalischen Kenntnisse unter anderem an der Ornstein School of Music vertieft. Von 1945 an Berufsmusiker, erhält er nach einem zweijährigen Zwischenspiel in einer Band der Army auf Hawaii sein erstes Engagement in der Gruppe von Blues-Star Eddie "Cleanhead" Vinson, wo ihn Dizzy Gillespie entdeckt. Nach Zwischenstationen bei Earl Bostic und Johnny Hodges erregt er Mitte der 50er als Tenorist im Miles-Davis-Quintett nicht nur mit seinem Solo über "’round Midnight" erstes Aufsehen, sondern entwickelt zusammen mit dem Trompeter in ersten Ansätzen die sogenannte "modale" Improvisation, die die herkömmlichen Akkord-Schemata auf- und ablöst und mit Davis‘ Legenden-LP "Kind Of Blue" für die Ewigkeit festschreibt. Durch die Hinwendung zu einer religiös geprägten Spiritualität von Alkohol und Drogen geheilt, drückt das Zusammenspiel mit Thelonious Monk und ein vielbeachtetes Engagement mit dessen Gruppe im New Yorker Jazz-Club "Five Spot" 1957 Coltrane einen weiteren prägenden Stempel auf, bevor er 1959 erneut mit Miles Davis zusammentrifft. Inzwischen vom Insider-Tip zur festen Größe geworden, nimmt "Trane", wie er in schöner Doppeldeutigkeit genannt wird, mit "Blue Train" sein einziges, dafür aber umso überzeugenderes "Blue Note"-Album auf und wird schließlich, zunächst noch als Mitglied im Quintett des Pianisten Red Garland, dann jedoch auch unter eigenem Namen zu einem der Aushängeschilder von Bob Weinstocks "Prestige"-Label. Doch wo 1959 mit der Einspielung von "Kind Of Blue" für sich allein schon ein weiterer "giant step" gewesen wäre, da macht Coltrane sozusagen mit beiden Beinen den nächsten großen Schritt nach vorn – nach der Unterzeichnung eines Vertrags mit dem "Atlantic"-Label der beiden jazzbegeisterten Brüder Ahmed und Nesuhi Ertegun, das 1998 sein 50jähriges Jubiläum feierte und aus diesem Anlaß auch eine ganze Reihe von lange vergriffenen Klassikern wiederveröffentlichte, stellt er nach einer kurzen Phase der Suche und der Umbesetzungen mit dem Pianisten McCoy Tyner, dem Bassisten Jimmy Garrison und dem Schlagzeuger Elvin Jones das Quartett zusammen, das kurz darauf Jazz-Geschichte schreiben und durch die sporadische Integration von Eric Dolphy die Klangfarbe des Jazz der nächsten zehn Jahre maßgeblich mitbestimmen soll. Der Wechsel von "Atlantic" zu "Impulse" zwei Jahre später bringt ebenso wie der zuvor von "Prestige" zu "Atlantic" wiederum noch ein Stück mehr künstlerischer Freiheit und mit Platten wie "Crescent" , "Africa/Brass" und dem Live-Mitschnitt eines Auftritts im New Yorker "Village Vanguard" eine weitere Annäherung an die Grenzen des konventionellen Jazz und bezieht immer weiter das mit ein, was uns heute unter dem Begriff "Weltmusik" geläufig ist. Verschreckt von der sich abzeichnenden Auflösung aller tonalen wie rhythmischen Bindungen verlassen Tyner und Jones nach dem auch kommerziellen Erfolg der Meilenstein-LP "A Love Supreme" von 1965 fluchtartig die Gruppe, Coltrane selbst arbeitet, getrieben von der Suche nach immer mehr Intensität, mit den zornigen jungen Saxophonisten Archie Shepp und Pharao Sanders zusammen und tritt mit dem – so Joachim Ernst Berendt – "40minütigen Orgasmus" "Ascension" die Tür zum Free Jazz mit Gewalt ein, die Ornette Coleman 1961 mit seiner dem ganzen Stil den Namen gebenden LP bereits aufgestoßen hatte. Im Oktober 1966 jedoch muß Coltrane bereits aus gesundheitlichen Gründen einen Auftritt bei den Berliner Jazztagen absagen, und als er am 17. Juli 1967 in New York mit nur 41 Jahren an einem Leberleiden stirbt, ist Kollegen wie Kritikern klar, daß das nur der körperliche Ausdruck für die seelische Erschöpfung des Mannes ist, der mehr Fragen aufgeworfen hatte, als er Antworten zu geben in der Lage war, und der um seine tiefste Tragik besser wußte als jeder andere, als er einst sagte: "Ich höre so viel und weiß doch nicht, wie ich es ausdrücken soll". Von der hymnischen Kraft des PilgersEs war und ist angelegentlich, so die Rede darauf kommt, mit "Ascension" noch immer das komprimierte Chaos, an dem sich die Geister scheiden und die Lager trennen – während die Jüngerschar heißen Herzens die Free-Orgie realiter für die Himmelfahrt nimmt, die der Titel impliziert, winkt die nicht minder enragierte Anti-Front nach spätestens drei Minuten mit einem eher geringschätzigen "und immer so fort" eher indigniert ab. Und wie sich in "Ascension" die Rezeptionsgeschichte Coltranes auf den Punkt verdichtet, so ist generell nur selten im Jazz ein Mythos derart ausgeschlachtet worden wie der Selbstzerfleischer von Gottes Gnaden – über Vita, Werk und Wirkungsgeschichte Coltranes ist in den mehr als drei Jahrzehnten seit seinem Tod so viel geschrieben worden, daß die Literatur fast schon eine kleine Bibliothek für sich füllen könnte und man dann und wann versucht ist, an einen Begriff aus der Sprache des Rock zu denken: Mit "Hype" bezeichnet man dort hochgeputschte Hysterien, die dem eigentlichen Anlaß kaum noch angemessen sind und ihn bisweilen sogar schon aus den Augen verloren haben. Beschränken wir uns also auf die ernsthaften, auf die von Sachverstand getragenen Analysen und von Verständnis beflügelten Wertungen: "Es fiel tatsächlich nicht leicht, sich vorzustellen, daß dieser ruhige und reservierte, ebenso bescheidene wie freundliche Mann die übermenschliche Energie in sich hatte, die er durch die Erfindung einer Musik unter Beweis stellte, die scheinbar das Universum erschüttern wollte", bekennt der italienische Jazz-Publizist Arrigo Polillo in seinem Buch "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik", "es schien so, als ob Coltrane immer alles sagen wollte, alles, was er empfand und dachte. Die unglaubliche Energie, seine Leidenschaft und die technische Beherrschung seines Instruments hatten eine schockierende Wirkung auf die Zuhörer. Sie wurden in einen Strudel dichter, betäubender und oft hinreißender Musik hineingezogen", konstatiert Polillo weiter. Und so macht es auch Sinn, wenn Joachim Ernst Berendt in seinem immer wieder aktualisierten Standard-Werk "Das Jazzbuch" Coltrane und Ornette Coleman in einem Kapitel zusammen abhandelt, so, wie er es mit Dizzy Gillespie und Charlie Parker gemacht hat, die er im Doppelspalten-Umbruch einander sogar direkt gegenüberstellt. "Stimulierend aufregend sind die Improvisationen Coltranes mit ihren beunruhigenden Kontrasten zwischen rasenden Melodiengängen und weit auseinandergezogenen Einzeltönen", hatte Deutschlands Jazz-Papst Anfang der 60er noch geschrieben, um den rastlosen Sucher später aus der Rückschau als "Revolutionär wider Willen" zu apostrophieren und festzustellen: "Coltrane war der ‚Sisyphos‘, der den harten, kantigen Fels der Erkenntnis immer wieder von neuem bergan wälzen mußte. Die Musik, die er von der Höhe des Berges blies, war getragen von der hymnischen Kraft des Pilgers, der eine weitere Etappe auf dem langen, dornigen Weg der Erkenntnis hinter sich gebracht hatte und der ahnte, daß es noch viele weitere Stationen geben müßte. Es war der Melodiker Coltrane", so Berendt weiter, "der mit ‚My Favorite Things’ zum ersten Mal einen ausgesprochenen Hit-Erfolg bei einem weiten Publikum erzielte. Er gewann aus der ständigen, immer nur geringfügig abgewandelten Wiederholung der Notenfolge des Themas eine Intensität schaffende Monotonie, wie sie bis dahin im Jazz unbekannt war." Erinnerungen an einen "Engel auf Erden""My Favorite Things" von 1960 war nicht nur einer der Meilensteine in der an Höhepunkten ohnehin nicht gerade armen Discographie John Coltranes, sondern auch – die persönliche Bemerkung sei gestattet – McCoy Tyners Piano-Solo, das eigentlich nie mehr hätte aufhören dürfen und das uns Sterbliche für ein paar Minuten heraushebt aus Raum und Zeit und uns einen Blick in die Ewigkeit werfen läßt. Und die, die mit Coltrane bei seinen immer neuen Grenzüberschreitungen am engsten verbunden waren, prägte die Begegnung mit ihm und drückte ihnen unauslöschlich seinen Stempel auf: "Mit John gearbeitet zu haben, war die größte musikalische Erfahrung meines ganzen Lebens", bekannte später McCoy Tyner, "diese Gruppe war wie die vier Kolben in einer Maschine. Und das Komische ist: Wir brauchten nicht von ihm überzeugt zu werden, denn alles schien fast wie von selbst zu passieren." Und Elvin Jones, über dessen Gastspiel im Berliner Club "Quasimodo" 1993 die "Berliner Morgenpost" ihre Kritik mit den Worten begann: "Coltrane lebt, und wie sogar", bekannte Ende der 60er mit vielleicht pathetisch klingenden, dafür aber umso ehrlicheren Worten: "Für mich war er wie ein Engel auf Erden. Wenn es überhaupt so etwas wie einen vollkommenen Menschen gibt, dann, glaube ich, war Coltrane einer. Und ich denke, diese Art von Vollkommenheit mußte von einer größeren Kraft kommen, als es sie hier auf Erden gibt." Zwischen Tradition und furchterregender QualitätEs war nicht zuletzt Coltranes Verwurzelung in der Tradition, die ihn auch später trotz aller oftmals nur noch schwer nachvollziehbaren Auf- und Ausbrüche dennoch nicht zum Outcast werden ließ. "Man muß deutlich sehen", betont Berendt, "er wurde bekannt und erfolgreich innerhalb der zu seiner Zeit akzeptierten und erfolgreichen Art von Jazz." "Die Leute hätten als Scharlatan Steine geworfen auf jeden anderen Experimentierer, wenn er so gespielt hätte, weil er eben nur so hätte spielen können", hatte sich denn auch schon die "Times" in ihrem Nachruf vom 18. Juli 1967 vor den ekstatischen Grübler gestellt, "von Coltrane hätte das niemand behaupten können, nachdem sein konventionelleres Spiel in den 50ern gezeigt hatte, daß er ein herausragender Musiker in jedem Idiom war. Deshalb waren sich selbst die, die nicht mit allem einverstanden waren, was er in den 60ern machte, darüber im klaren, daß seine Musik von einer ehrfurchtgebietenden, majestätischen und nahezu furchterregenden Qualität war." Und die "Herald Tribune" schließlich brachte Coltranes tiefste Motivation auf den Punkt, als sie in ihrem Nachruf einen ungenannten Coltrane-Kollegen mit den Worten zitierte: "Er durchbricht die feine Grenze zwischen Geräusch und Musik, er schreit sich der Selbstgefälligkeit und Mittelmäßigkeit um ihn herum regelrecht entgegen." "Education sentimentale" in EtappenWenn die NASA richtig gerechnet hat, werden Raumsonden durch das Gravitationsfeld der Planeten, die sie im Vorbeiflug passieren, in eine neue Bahn geschleudert, und auch John Coltrane wurde durch die Schwerkraft gleich zweier musikalischer Fixsterne in eine neue Richtung gelenkt, die seiner weiteren Entwicklung maßgebliche Impulse gaben: Es war 1957, als der bislang nur Insidern bekannte junge Saxophonist bei Thelonious Monk einstieg, und das Zusammentreffen mit dem verschrobenen Genie wurde für Coltrane zu so etwas wie seiner persönlichen "education sentimentale": "Er nahm dieses Engagement sehr ernst, weil er damals in eine für ihn geheimnisvolle und faszinierende Welt eintrat", berichtet Polillo, "einige charakteristische Züge von Coltranes Stil wurden damals festgelegt, angefangen mit den langen und so schnell gespielten Phrasen, daß die Töne in einer Art von ständigem Glissando ineinander übergehen. Ira Gitler nannte das mit einem weit verbreiteten Ausdruck ‚sheets of sound’, ‚Klangflächen‘", dröselt Polillo den auch theoretischen Background weiter auf, und Coltrane selbst erinnerte sich 1960 im US-Jazz-Fachblatt "Down Beat": "Manchmal spielte er (Monk) ein eigenes Schema alterierter Akkorde, das von dem, das ich spielte, ziemlich verschieden war. Wir erreichten einen bestimmten Punkt, und wenn wir wirklich zusammen dorthin kamen, konnten wir glücklich sein. Monk kam immer zum richtigen Zeitpunkt und rettete uns. Er ist ein wirklicher musikalischer Denker, und ich bin glücklich, daß es mir vergönnt war, mit ihm zu spielen." Die Ohrfeige, die stilbildend wurdeKlappert man die musikalische Biographie Miles Davis’ ab, so bilden zwei legendäre Quintette die Eckpfeiler all dessen, was später mit und in seinem Namen im Jazz passieren sollte, und am Erfolg des ersten war auch Coltrane nicht unmaßgeblich beteiligt: 1955 trafen die beiden so grundverschiedenen Charaktere das erste Mal zusammen, und aus der fruchtbaren Spannung zeichnete sich mit Alben wie "Workin‘" und "Steamin‘", "Cookin‘" und "Relaxin‘", die auch schon vom Titel her die ganze Bandbreite menschlicher Seelenzustände ausleuchten, das ab, was als "modale" Improvisation das herkömmliche Akkord-Schema ablösen sollte. "Ein Kritiker von ‚Down Beat‘ hörte bereits 1955 im Spiel Coltranes ‚Orientalisches‘", berichtet Berendt in seinem Essay-Band "Ein Fenster aus Jazz", "dieses Datum ist auch deshalb interessant, weil es einen Hinweis zur Lösung der alten Streitfrage bietet, ob nun Miles Davis oder Coltrane den ersten Anstoß zur Modalität des modernen Jazz gegeben habe. Coltrane, würde ich meinen, war der Initiator", schlußfolgert Berendt und spezifiziert: "Auch die abrupte, nie ganz geklärte Art, in der sich Davis und Coltrane im November 1956 zum ersten Mal trennten, deutet in diese Richtung: Miles hatte Coltrane ins Gesicht geschlagen, und Coltrane, der schon damals alles studierte, was er über asiatische Religiosität erfahren konnte, hatte es, ohne sich zu wehren, geschehen lassen. Miles hatte begriffen, was Coltrane ihm erschlossen hatte; jetzt wollte er allein weitermachen." Was freilich nicht heißt, daß beide nicht intuitiv gewußt hätten, was sie aneinander hatten, und so rauften sie sich von 1959 bis 1961 noch einmal zusammen, ehe sich ihre Wege endgültig trennten, und als sie 1959 für "Kind Of Blue" erneut gemeinsam ins Studio gingen, war das modale Konzept inzwischen derart homogen verzahnt, daß daraus eine der Sternstunden des Jazz aller Zeiten wurde, die noch heute nicht nur zu den Alltime-Bestsellern auf dem Plattenmarkt gehört, sondern im Zeitalter der CD in immer wieder neu überarbeiteten Digital-Fassungen nachveröffentlicht wird. Das in Vinyl gegossene Gebet"1965 war das Jahr John Coltranes", titelte "Down Beat" in der Dezember-Ausgabe jenes Jahres, und das mit Fug und Recht: Mit der Wahl in die "Hall Of Fame", als Musiker des Jahres, Saxophonist des Jahres und "A Love Supreme" als Platte des Jahres belegte er gleich viermal den ersten Platz in der Kritiker- wie der Leser-Gunst. Doch 1965 war auch das Jahr, in dem seine Sinn-Suche ihn auf bis dahin unerreichte innere Höhen getragen hatte. Denn zwar hatte er sich schon lange mit einem religiös eingefärbten Mystizismus beschäftigt, war durch die Vorbereitung seiner "Africa/Brass"-Platten von 1961 zumindest aus der Ferne auch mit dem Pantheismus des Schwarzen Kontinents in Berührung gekommen und hatte in unbewußter Doppeldeutigkeit schon Anfang der 60er einen seiner Titel "Spiritual" genannt, was ebenso den Stil-Begriff des geistlichen Liedes wie auch ganz generell "spirituell" heißen konnte. Doch mit dem so großen wie großartigen "A Love Supreme" – für Berendt "ein einziges großes Gebet von hymnischer Eindringlichkeit" – hatte diese Sinn-Suche die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt unwiderruflich überschritten, sich als und in der Kunst manifestiert und einem breiten Publikum preisgegeben, um nicht zu sagen: ausgeliefert. Trane & Jazz & Rock ’n‘ Roll"Seine Religiosität ist ‚kosmisch‘ genannt worden, und er selbst hat mehrmals erklärt, er glaube an alle Religionen", berichtet Arrigo Polillo und rückt zugleich die Dimensionen zurecht: "Fest steht aber, daß seine Liebe zur indischen Musik ihn sehr bald in die Nähe der indischen Religion gebracht hat, die ihn vor allem in seinen letzten Lebensjahren faszinierte." Und daß das ein paar Jahre später, als Gott und die Welt anfingen, auf den Trip zu gehen, die ersten Gurus Hochkonjunktur hatten und die erste Welle der neuen Befindlichkeits-Kultur über uns hereinschwappte, die wir heute der Einfachheit halber unter dem Sammelbegriff "Esoterik" oder "New Age" ablegen – daß das Innerlichkeits-Apostel jeglicher Couleur anziehen mußte wie die Motten das Licht, ist fast zwangsläufig. Und doch war es eine handfeste Überraschung, als ausgerechnet Carlos Santana und John McLaughlin, bis dahin eher zuständig für bodenständigen Latino- respektive Jazz-Rock, 1973 das CBS-Studio zum Ashram umfunktionierten und mit ihrer Version von "A Love Supreme" auf den in voller Fahrt dahinrauschenden Ying- und Yang- und Karma-Zug aufsprangen. "Ich habe die Platte vom Plattenspieler gerissen und sie an mein Herz gedrückt", schrieb beispielsweise der inzwischen verstorbene Musik-Kritiker Barry Graves 1973 in einer Rezension, und wir hoffen, daß sie dort nicht zerschmolzen ist. Doch überhaupt strahlte Coltrane weit über die Grenzen des eigentlichen Jazz hinaus: "Die ganze musikalische Szene – Jazz und Rock und Jazz-Rock – ist heute nicht denkbar ohne John Coltrane", konstatiert Berendt in "Ein Fenster aus Jazz", und Polillo fügt hinzu: "Tatsächlich haben außer Coltranes Stil als Saxophonist auch seine modalen Konzeptionen sowohl im Jazz als auch im Rock Schule gemacht". Und so waren es denn auch besonders die Avantgarde-Gruppen der Früh-Zeit des Rock, die sein Erbe, wenn auch modifiziert und zum Teil schon rundgelutscht, an ein Publikum weitergaben, das mit Jazz im allgemeinen und freiem Jazz erst recht herzlich wenig am Hut hatte: "East Of Eden" beispielsweise verdankten ihm ebensoviel wie ihren anderen Vorbildern Bartok und Ravel, die holländischen Klassik-Rocker von "Focus" nannten ihn ausdrücklich als mitprägenden Einfluß, und Altsaxophonist Edgar Winter, Bruder des Blues-Gitarreros Johnny Winter, hatte sich jahrelang mit vermischten Blues- und Coltrane-Programmen auf Kneipen-Tingel-Touren über Wasser gehalten, ehe er als Star in eigener Sache anerkannt wurde. Klare Worte im Nebel der FormulierungenWenn weiter oben festgestellt wurde, es sei auch jede Menge Unfug geschrieben worden über John Coltrane, so gilt das nicht nur für die Jazz-Literatur im engeren und Publikationen überhaupt im weiteren Sinne, sondern auch für ein zusätzliches Betätigungsfeld von Scharlatanen, Schaumschlägern und Schubladen-Sortierern: Macht man sich die Mühe und liest die sogenannten "Liner Notes", die Begleit-Texte auf Platten-Covern, so stößt man in der Regel auf mindestens ebensoviel verblasenen Schwulst und aufgeplusterte Platitüden wie wirklich relevante, weil Hintergründe und Zusammenhänge erhellende Informationen, wobei renommierte Star-Kritiker und ambitionierte Nobodies sich dabei in nichts nachstehen. Auch Coltrane wurde da häufiger Opfer so manches ebenso wortreichen wie nichtssagenden literarischen Ergusses, und so ist es umso erfreulicher, daß sich zumindest die französische Vinyl-Neuveröffentlichung des 1960 eingespielten Albums "John Coltrane Plays The Blues" vom Ende der 70er Jahre aller Tiraden und allen Geschwätzes entschlägt und statt dessen kurz, knapp und präzise auf den Punkt kommt: "Man kann nicht anders als sich der perfekten Leichtigkeit hinzugeben, mit der Coltrane sein Blues-Examen ablegt. Blues zu spielen ist der Prüfstein jedes Jazz-Musikers. Auf diesem Album interpretiert Coltrane sechs Blues-Titel auf sechs verschiedene Arten, mal zärtlich, mal zupackend, mal lyrisch. Verliebt in Kontraste, macht er so aus einer einfachen, bewegenden Phrase eine Improvisation von einzigartiger Komplexität", stellte der anonyme Schreiber fest und empfahl: "Ein Album, das man Anhängern von Folk, von Rhythm & Blues wie von Pop gleichermaßen vorspielen sollte, wobei gerade die Pop-Liebhaber, ohnehin schon sensibilisiert für den Blues, auf diese Art besonders von einer Annäherung an den Jazz auf einem Gebiet profitieren können, das ihnen bereits vertraut ist". Ein Mythos zwischen Fluch und SegenJohn Coltrane, der Seelen-Sucher auf dem Saxophon, der Mystiker, der sich selbst mit seiner hypnotischen Musik Fluch und Segen zugleich war und der mit jedem weiteren seiner "Giant Steps" einen Riesen-Schritt weiter auf dem Weg zur – wie wir heute sagen würden – "Bewußtseinserweiterung" gegangen ist in Richtung auf den archaisch-dämonischen Kern, der im tiefsten Inneren eines jeden Menschen brodelt, ein Ikarus, der der Sonne schon bedenklich nahe gekommen war. "Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können", hatte der verzückte Ekstatiker Nietzsche seinem alter ego Zarathustra die gefährlichste aller Versuchungen in den Mund gelegt, bevor er ihr später selbst zum Opfer fiel, und nur vordergründig makaber ist deshalb die Frage, die auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Tod Coltranes im Raum steht: War es nicht vielleicht das Beste, daß er physisch gestorben ist, bevor er psychisch zersprungen wäre? Das Fazit zumindest, das "Down Beat" als Quintessenz bereits aus den Poll-Wertungen von 1965 gezogen hatte, hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren: "Ob nun persönlich gehört oder von Platte – Coltranes mächtige Musik läßt Zuhörer nur selten kalt; manche werden von ihrer Gewalt abgestoßen, aber viel mehr fühlen sich angezogen von ihrer Kraft und Schönheit und wieder andere von ihrer mystischen Ausstrahlung. Vor allem anderen aber ist Coltranes Musik Kunst von ehrfurchtgebietender Ernsthaftigkeit." |
AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIEals Leader:
als Sideman:
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